Handball-Bundesligist VfL Potsdam Nach 14 Niederlagen in 14 Spielen: Warum die rekordverdächtigen Verlierer aus Potsdam Grund zum Optimismus haben
Nach einem Aufstieg, der als Betriebsunfall bezeichnet wurde, reiht der VfL Potsdam ausnahmslos Niederlage an Niederlage. Wie sich das anfühlt und warum wenigstens ein Parkhaus gute Laune beschert. Von Ilja Behnisch
Vieles ist einfach auch eine Frage der Lesart. Zum Beispiel wenn es um den 1. VfL Potsdam geht. Eine Mannschaft, die in der vergangenen Saison eher unvorhergesehen aus der zweiten Handball-Bundesliga in die erste aufgestiegen ist und sich dort seither brutal konstant zeigt: 14 Spiele, 14 Niederlagen. Frohe Weihnachten. Und die Frage, was es mit einem Verein macht, wenn man immer nur verliert?
Ortsbesuch am 11. Dezember, Heimspiel gegen Eisenach. An der Garderobe der mit 1.850 Zuschauern gut gefüllten und bis zum Ende der Partie stimmungsvollen Potsdamer MBS-Arena liegt ein Buch aus - "Allee des Ruhms". Man muss genauer hinschauen, um zu erkennen, dass es um "Potsdam bei Olympia" geht, nicht um das Bundesliga-Abenteuer des VfL.
In der Halle ist das Aufwärmen der Teams gleich beendet, der Hallen-DJ spielt "Mr. Brightside" von The Killers, gefolgt von "Alive" von Pearl Jam. "Heute wird’s" sagt ein Fan. "Oh je", ein anderer. Man einigt sich darauf, dass ein Unentschieden ziemlich gut wäre. Kurz vor Anwurf wird dem riesigen Adlerkopf, der das Wappentier des Klubs darstellt und der bis zu den Mannschaftsvorstellungen als eine Art Einlauf-Tunnel gedient hat, die Luft rausgelassen.
"Wir sind nicht so ernüchtert, wie jemand da draußen, der einfach nur die Ergebnisse liest"
Es ist natürlich Quatsch, aber man könnte es eben auch so lesen: Luft raus, schon bevor es beginnt. Und so spielt sie dann auch, die jüngste Mannschaft der Liga, die im Vergleich zur vergangenen Saison noch einmal jünger geworden ist, auch, weil sie drei ihrer Besten abgeben musste, zwei davon an die Füchse, den Kooperationspartner aus Berlin, für den Potsdam so etwas wie die Talente-Schmiede ist. Die Gäste aus Eisenach bekommen eine schnelle Zwei-Minuten-Strafe und trotz Überzahl liegt der VfL sofort mit 0:2 zurück. Verworfener Siebenmeter inklusive.
"Der geht zwei Meter übers Tor, das darf nicht passieren", sagt Axel Bornemann eine Woche später am Telefon. Bornemann, 51, ist sportlicher Leiter in Potsdam. Er nimmt sich mehr als eine halbe Stunde Zeit. Erklärt, dass man der Klub-Philosophie treu bleiben wollte und wird. Auch wenn der sofortige Wiederabstieg damit hochgradig wahrscheinlich war und ist. Erklärt, dass es darum geht, aus 34 Spielen in der Handball-Bundesliga, mithin 34 Spiele in der stärksten Handball-Liga der Welt, eine Aneinanderreihung von Festtagen zu machen.
Und dass zu Festtagen aber auch gehöre, dass "alles on point ist". Und dann wirft einer zu Beginn einer Partie in Überzahl einen Siebenmeter unters Hallendach. Darf nicht passieren. "Kann aber passieren", sagt Bornemann, "wenn bei jungen Menschen Nerven mit im Spiel sind." Und: "Wir sind nicht so ernüchtert, wie jemand da draußen, der einfach nur die Ergebnisse liest."
Axel Bornemann, der sportliche Leiter des VfL Potsdam.
Fantastisch ausgebildete Spieler — und fehlende Kleinigkeiten
So ähnlich sieht es auch Sascha Staat, 44, Sport-Journalist und Handball-Experte. Er moderiert den Podcast "Kreis ab", kommentiert die Handball-Bundesliga für den Spartensender Dyn und sagt: "Es haut mich nicht vom Hocker, dass sie noch keinen Punkt haben." Was er aber auch sagt, und das mehrfach: "Du siehst, diese Spieler sind fantastisch ausgebildet."
Das ist vor allem ein Verdienst von Bob Hanning, 56, über den sich zunächst einmal sagen lässt, das sich über ihn vieles sagen lässt. Hanning ist unter anderem Geschäftsführer der Füchse Berlin, ehemals Vize-Präsident des Deutschen Handball Bundes, Träger des Spitznamens Mr. Handball, Träger sehr, sehr bunter Oberteile und bis Ende der vergangenen Saison auch: Trainer des VfL Potsdam. Hanning sei der beste Ausbilder im deutschen Handball, vielleicht in Europa, sagt Staat, der Experte. Aber: "Selbst ein etablierter Aufsteiger, der seine besten Spieler verliert, hat keine Möglichkeit, in der Liga zu bleiben." Es klingt wie ein amtliches Entschuldigungsschreiben mit Kuss-Mund als Unterschrift.
Den Potsdamern fehlt es an Physis und Erfahrung. Die Mannschaft hält oft gut mit über weite Strecken des Spiels, aber es sind die Kleinigkeiten. Etwas weniger konsequentere Tempogegenstöße als noch im Aufstiegsjahr. Etwas zu wenig Physis. Etwas zu wenig Kadertiefe. Etwas zu hohe Fehlerquote in der finalen Aktion. Es ist wie so oft, in jeder Sportart.
Werden die Festtage zum Bumerang?
Vielleicht lässt es sich mit Roger Federer erklären. Der womöglich beste, sicher aber einer der erfolgreichsten Tennis-Spieler aller Zeiten hat seinen Sport viele Jahre dominiert. Und dabei "nur" 54 Prozent aller jemals von ihm gespielten Punkte gewonnen. Doch eben verdammt oft die entscheidenden. Auch Federer brauchte Zeit, um an den Kleinigkeiten zu arbeiten, um in der Weltspitze anzukommen. Nur hat er auf dem Weg dorthin nicht immer nur verloren.
Die Frage, die sich mit Blick auf die Spieler des VfL Potsdam daher stellt, lautet: Kann das Abenteuer Bundesliga zum Bumerang werden? Kann aus der Idee, hochtalentierte Spieler unbezahlbare Erfahrungen in den "Handball-Tempeln" (Bornemann) dieser Welt sammeln zu lassen, ein nachhaltiger Schaden entstehen? Sport ist immer auch eine Frage des Selbstbewusstseins. Nur wie gut kann es darum noch bestellt sein, wenn am Ende jeder Anstrengung Woche für Woche dasselbe steht — eine Niederlage?
Experte Sascha Staat glaubt nicht an einen Bumerang-Effekt. "Weil sie in Potsdam wissen, in welcher Konstellation sie in der ersten Liga unterwegs sind." Vielmehr könnte die Mannschaft "gegen Ende" noch überraschen und "zwei, drei Siege" holen. Dann, wenn der Druck des längst nur noch theoretischen Klassenerhalts verflogen ist und aber die Konkurrenz noch genau daran zu nagen hat. Wobei zumindest im Spiel gegen Eisenach zu keinem Zeitpunkt hängende Köpfe oder Verzweiflung auszumachen sind bei den Potsdamer Spielern.
Gute Stimmung im Parkhaus
Axel Bornemann, der sportliche Leiter des VfL, will die Frage nach dem Bumerang nicht so recht beantworten. Nur soviel: Die Mannschaft habe nach der Partie in Wetzlar Ende November, einer 18:26-Niederlage, erstmals angefangen, "sich selbst in Frage zu stellen. Das ist ganz hart. Aber es stimmt nicht." Bornemann sieht die Entwicklung, sieht Nationalmannschaftsberufungen wie jene für den Kroaten Josip Simic, sieht immer wieder starke Phasen und Einzelleistungen. Er sagt aber auch: "Jede Niederlage frisst an mir und das tagelang." Und: "Ich würde acht Niederlagen mit minus 20 Toren in Kauf nehmen, um einen Sieg zu haben."
Er habe auch "schonmal geschaut", ob jemals zuvor eine Mannschaft mit null Punkten aus der Bundesliga abgestiegen sei. Und "ja, gab es, wir wären nicht die Ersten. Das ist so ein kleiner Anker im Kopf." Allerdings absolvierte Eintracht Hildesheim in der Saison 1968/69 und der damals noch in zwei Staffeln geteilten Bundesliga überhaupt auch nur 14 Saisonspiele.
Nach der Potsdamer Heimniederlage gegen Eisenach (26:31), bei der man kein Experte sein musste, um zu erkennen, dass Potsdam die schwächere Mannschaft war, ist das Kassensystem des angrenzenden Parkhauses defekt. Die Ausfahrts-Schranke ist dauerhaft oben, bezahlt werden muss nicht. Die Stimmung unter den abwandernden Fans ist prächtig.
Sendung: rbb24, 24.12.2024, 22 Uhr