Interview mit Jens Voigt zur Tour de France Interview mit Jens Voigt zur Tour de France: "Es wird nächstes Jahr garantiert nicht noch einmal solch ein Durchmarsch von Pogacar"
Ex-Radrennprofi Jens Voigt war erneut nahe an der Tour de France dran. Im Interview spricht der Eurosport-Experte über Sieger und Verlierer, Vorteile für Bergfahrer, die Karriere von Simon Geschke und warum Pogacar es zukünftig schwerer haben wird.
rbb|24: Herr Voigt, welche Überschrift würden Sie der diesjährigen Tour de France geben?
Jens Voigt: Tadej Pogacar - der neue Eddy Merckx (ehemaliger belgischer Radrennfahrer, Anm. d. Red.)!
Pogacar war bei der Tour so gut wie noch nie und hat sie dominiert. Was waren aus Ihrer Sicht die Faktoren, die dazu geführt haben, dass das möglich war?
Er hat sich clever vorbereitet. Er ist vor der Giro d’Italia wenig Rennen gefahren, hat dann den Giro gewonnen und es geschafft, diese Form zu konservieren und in die Tour de France mitzunehmen. Im letzten Jahr hatte er das Pech mit seinem Sturz im April, der seine Vorbereitung gestört hat – dieses Jahr hatte sein Hauptkonkurrent Jonas Vingegaard das Pech mit seinem Sturz im April. Das hat Pogacar sicherlich geholfen. Mit Primoz Roglic ist ein weiterer Fahrer, der ein Konkurrent hätte sein können, gestürzt. Remco Evenepoel, der Dritter in der Gesamtwertung ist, fährt seine erste Tour de France, weshalb er sich noch austestet.
Es war also eine Kombination daraus, dass es bei Pogacars Konkurrenten nicht perfekt lief, er selbst sich sehr gut vorbereiten konnte und die Mannschaft um ihn herum noch einmal verstärkt wurde.
Jonas Vingegaard hat nach eigener Aussage und auch nach Schätzungen von außen die besten Leistungswerte seiner Karriere am Ende der zweiten Tourwoche auf die Pedale gebracht und es hat trotzdem nicht gereicht. Fehlte ihm nach einer sehr kurzen Vorbereitung die Grundlage für die dritte Woche oder war Pogacar dieses Jahr sowieso nicht zu stoppen?
Nein nein, dass Vingegaard körperlich die nötige Rennhärte gefehlt hat, wird der entscheidende Grund gewesen sein. Man kann im Training vieles planen und simulieren, aber diese Rundfahrten kann man nur schwer simulieren. Vingegaard hat durch seinen Sturz ja auch lange aussetzen müssen und nicht trainieren können – das kann man nicht so einfach aufholen. Vor seinem Sturz hatte er mehrere Siege hintereinander eingefahren, war völlig auf Kurs Titelverteidigung, doch der Sturz hat ihn zu viel Zeit gekostet. Wäre die Tour de France einen Monat später gewesen, wäre er wahrscheinlich innerhalb von 30 Sekunden Distanz auf Pogacar gewesen.
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Für das deutsche Team Red Bull Bora-Hansgrohe war der sturzbedingte Ausfall von Roglic ein früher Rückschlag. Am Ende wird es aber wohl keinen Etappensieg geben. Wie fällt Ihr Fazit für das Team aus – auch vor dem Hintergrund der großen Investitionen?
Sie haben ja mit Alexandr Vlasov einen weiteren sehr starken Fahrer, der im Frühjahr noch viele Siege eingefahren hatte, verloren. Das sind zwei Leistungsträger, das muss so ein Team auch erstmal wegstecken. Tja, was heißt Investment? Das ist halt der Sport. Das kann keiner vorhersehen. Ein Vergleich zum Fußball: wer hätte vorhersehen können, dass sich Manuel Neuer beim Skifahren das Bein bricht und dem FC Bayern München ewig fehlen würde? Das ist nun einmal das Leben, das kann man nicht alles planen.
Trotz allem hat die Mannschaft eine große Zukunft. Sie haben gute Fahrer und werden sich weiter verstärken. Ich sehe da keinen Grund, nervös zu werden. Die Tour de France ist jetzt halt nicht gut gelaufen. Aber die Hälfte der Mannschaften haben keine Etappen gewonnen – die können ja nicht alle schlecht sein. Drei Fahrer haben die Hälfte der Etappen gewonnen – da ist nicht mehr viel zu holen.
Die Tour war extrem fordernd und hart. Fahrer wie Mathieu van der Poel sollen laut Gerüchten mit dem Gedanken spielen, in Zukunft nicht mehr teilzunehmen, weil es selten Etappen zwischen harten Bergtagen und Sprintankünften gibt. Wie ist Ihre Meinung dazu? Kommen Klassikerfahrer zu kurz?
Das stimmt, die Spitzengruppen kamen nicht allzu oft durch. Selbst heute (Samstag, Anm. d. Red.), wo man dachte, das wäre ein klassischer Tag für eine Spitzengruppe, kamen sie nicht durch, weil eine Klassementfahrer-Mannschaft die Idee hatte, noch die Etappe gewinnen zu wollen. So war diese Tour recht undankbar für Ausreißergruppen. Gleich am ersten Tag holte ein Ausreißer die Etappe, aber das lag daran, dass die hinteren Fahrer sich verkalkuliert hatten. Selbst ich als sogenannter Experte habe das nicht für möglich gehalten. Aber alle 20 Jahre gibt es das mal.
Wird sich die Tour weiterhin in Richtung dieser Extreme entwickeln oder wird es bald Anpassungen geben?
Ein Großteil der nächstjährigen Strecke ist ja bereits gemacht. Das ist ja ein großer Aufwand: da werden Asphaltstrecken neugemacht, Verkehrsinseln abgefräst und Verkehrsschilder um- oder abgebaut. Das kann man also nicht von heute auf morgen verändern. Aber ganz sicher gibt es die Möglichkeit, darauf zu reagieren, wenn Fahrer einen Hügel mehr oder weniger auf der Strecke haben wollen – so kann es für Sprinter oder Ausreißer attraktiver werden. Dazu wird es wohl auch noch eine große Sitzung des Veranstalters geben.
Aber es gibt kein festgeschriebenes Gesetz dafür, dass die Tour nur Bergfahrer oder nur für Sprinter gemacht sein muss. Um es einmal ins Extreme zu führen: man könnte auch ein Jahr eine Tour de France ohne Alpen und Pyrenäen fahren und so eine Strecke für beispielsweise van der Poel wählen – jeden Tag eine Klassikeretappe. Das liegt im Ermessen des Veranstalters. Aber: du kannst die Ausreißer, Sprinter und Klassementfahrer nicht gleichermaßen glücklich machen. Dieses Jahr war es eher eine Tour für die Klassement- und Bergfahrer.
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Der Berliner Simon Geschke erlebt seine letzte Tour de France. Wie blicken Sie als Berliner auf seine Karriere zurück?
Geschke ist ein Kämpfer vor dem Herrn und hatte eine tolle Karriere. Er wird auch von sich heraus sagen, dass er nie den Anspruch hatte, Superstar zu werden. Aber er hat eine sehr gute und solide Karriere hingelegt. Sein Team in Frankreich liebt ihn, weil er loyal und immer hilfsbereit ist. Er ist das Paradebeispiel für den loyalen Mannschaftskameraden.
Wer oder was war für Sie die große Überraschung der Tour?
Tatsächlich Mark Cavendish. Schande über mich, ich hätte nicht geglaubt, dass er eine Etappe gewinnt. Und er hat ja sogar sehr souverän mit mindestens einer Radlänge Vorsprung gewonnen. Das hat mich schon überrascht. Aber auch Romain Bardet, der bei seiner letzten Tour das Herz in die Hand nimmt, am ersten Tag attackiert und für Frankreich die erste Touretappe sowie das gelbe Trikot holt. Mich hat aber auch überrascht, wie stark Jonas Vingegaard nach seinem Sturz zurückgekommen ist und Platz zwei in der Tour geholt hat.
Erleben wir nächstes Jahr einen Kampf auf Augenhöhe um das Gelbe Trikot oder hat Pogacar jetzt den entscheidenden Schritt gemacht, der ihn von allen anderen abhebt?
Wir dürfen die durchwachsene Vorbereitung Vingegaards nicht vergessen. Das wird nächstes Jahr sicherlich nicht der Fall sein, da wird er besser sein. Matteo Jorgenson hat dieses Jahr auch sehr gute Leistungen gezeigt und kriegt nächstes Mal womöglich mehr Freiheiten. Wir haben auch Remco Evenepoel, der viel gelernt hat und besser geworden ist. Auch Juan Ayuso, der bei Pogacar in der Mannschaft war und nun ausgestiegen ist, könnte es auch probieren wollen. Es wird nächstes Jahr garantiert nicht noch einmal solch ein Durchmarsch von Pogacar.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Marc Schwitzky, rbb Sport.
Sendung: rbb24 inforadio, 20.07.2023, 22 Uhr