Hertha-Trainer Cristian Fiél gibt Anweisungen. (Foto: IMAGO / Philipp Szyza)

Hertha erkämpft sich einen Punkt in Hamburg Hertha erkämpft sich einen Punkt in Hamburg: 50 Prozent Fiél-Fußball

Stand: 11.08.2024 10:22 Uhr

Hertha BSC hat sich spät einen Punkt beim Hamburger SV erkämpft. Das 1:1 offenbart, was bei den Berlinern noch alles nicht klappt – aber auch, wohin die Reise unter Trainer Cristian Fiél bei einer Leistungssteigerung gehen könnte. Von Marc Schwitzky

In der 86. Spielminute musste alles raus. Cristian Fiél feierte seinen ersten großen Glücksmoment als Trainer von Hertha BSC. In jenem Augenblickt hatte Rechtsverteidiger Jonjoe Kenny die Berliner beim Hamburger SV zum 1:1-Ausgleich geschossen. Die blau-weiße Bank explodierte, Fiél hüpfte vor Freude an der Seitenlinie entlang und schrie alle Emotionen heraus. "Die Mannschaft hat im zweiten Durchgang so viel investiert, ich freue mich für die Jungs. Ich bin Spanier, deshalb habe ich auch immer weniger Haare", erklärte der 44-Jährige nach Abpfiff seine Gefühlsexplosion.
 
In Sachen Haarverlust dürfte es Fiél vor seiner Amtszeit bei der "alten Dame" im wahrsten Sinne des Wortes grauen. Denn Hertha ist ein Spezialist für dramatische Spielverläufe, die allerlei Stressreaktionen hervorrufen können. Nicht weiter belegbare Studien zeigen, dass Hertha-Fans beispielsweise im Liga-Vergleich die kürzesten Fingernägel besitzen. Der Punktgewinn beim HSV am Samstagabend reiht sich in eine lange Historie der Gründe dafür ein.

Herthas Jonjoe Kenny bejubelt sein 1:1 gegen den HSV (Bild: imago images/KBS-Picture)
Hertha BSC rettet spät einen Punkt in Hamburg

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Paderborn reloaded

Die erste Halbzeit in einem der Topspiele der 2. Bundesliga war randvoll mit haarsträubenden Momenten auf Berliner Seite. Erinnerungen an das Spiel gegen den SC Paderborn wurden geweckt. Auch beim Liga-Auftakt kam Hertha gut in die Begegnung, hatte viel vom Ball – es sah zunächst nach einer geeigneten Reaktion auf die 1:2-Niederlage aus. "Wir waren aber gegen den Ball nicht gut, haben den HSV so reinkommen lassen", erklärte Fiél später.
 
Die Defizite in der Arbeit gegen den Ball zeigte sich am eklatantesten beim 0:1-Gegentreffer in der 11. Minute. Hier zeigte sich Hertha durchgehend zu passiv und unkonzentriert. Linksverteidiger Jeremy Dudziak ließ sich einfach von Gegenspieler und Flankengeber Bakery Jatta überlaufen. Dessen Hereingabe fand Ransford Königsdörffer. Der Mittelstürmer hatte bei seinem Kopfballtor leichtes Spiel, da völlig ungedeckt. "Beim 0:1 darfst du den Stürmer niemals so frei lassen. So ein Gegentor ärgert mich sehr", so Fiél, der damit den in der Szene sträflich indisponierten Innenverteidiger Linus Gechter meinte.
 
Wie schon gegen Paderborn musste Hertha trotz gutem Beginn einem Rückstand hinterherlaufen. Und wie gegen Paderborn rauchten die Köpfe der Spieler. "Wir haben nach dem Gegentor angefangen nachzudenken, der HSV wurde dominanter", stellte Fiél fest. Hertha spielte im Anschluss erneut erschreckend zahnlos, fand keine Mittel gegen das äußerst kompakte 5-4-1 von HSV-Coach Steffen Baumgart.

"Man sagt nicht umsonst, dass das Spiel im letzten Drittel am schwersten ist"

Wie schon am ersten Spieltag war Herthas mangelnde Torgefahr wieder in den offensiven Außenbahnen begründet. Erneut machte sich das Fehlen von Leistungsträger Fabian Reese schmerzlich bemerkbar. Ohne ihn tun sich die Hauptstädter immens schwer, Tempo und Tiefe zu kreieren. Beides wird zwingend gebraucht, gegen solch einen tiefstehenden Gegner. Wie vor einer Woche fehlte es an Mut: Anstatt das Derry Scherhant und Marten Winkler furchtlos das direkte Eins-gegen-eins suchten, drehten sie immer wieder ab und schlugen die egale Halbfeldflanke. Die individuelle Entscheidungsfindung in diesen Räumen bleibt ein Problem.
 
"Es gab Situationen, die wir besser ausspielen müssen. Das war schon letzte Woche so. Aber man sagt nicht umsonst, dass das Spiel im letzten Drittel am schwersten ist", so Herthas Mittelstürmer Haris Tabakovic, der erneut im Strafraum mangels guten Zuspielen verhungerte. Auch die ungenügende Strafraumbesetzung machte es Hertha schwer, den HSV herauszufordern – Tabakovic war oft allein in der eigentlichen Gefahrenzone. Dass Hertha es spielerisch immer wieder durch das Zentrum versuchte, spielte den "Rothosen" zusätzlich in die Karten, die dort gezielt Ballgewinne erzielten um Umschaltmomente kreierten.

Mit Umstellungen zum Erfolg

Dem HSV war es im ersten Durchgang deutlich besser gelungen, dem Spiel seinen Stempel aufzudrücken – Hertha kam nicht durch das massive Zentrum der Hanseaten durch und lief gegen den Ball oft nur hinterher. Fiél musste reagieren – und er tat es erfolgreich. Vor allem zwei Anpassungen trugen Früchte.
 
Personeller Natur: Deyovaisio Zeefuik ersetzte den mit Jatta gänzlich überforderten Dudziak in der Linksverteidigung. Der Niederländer stellte den HSV-Flügelflitzer durch seine Aggressivität im Zweikampf und sein Tempo nahezu kalt. Das verschaffte Hertha viel Luft. "In der zweiten Hälfte waren wir in den Zweikämpfen nicht einen Meter zu spät", analysierte Fiél.
 
"Wenn der Gegner dir das Zentrum schließt, musst du einfach mehr über die Flügel spielen und mit den Außenverteidigern höher stehen, damit du in den Rücken der Anläufer kommst", erklärte der gebürtige Esslinger. Hertha biss sich nicht mehr die Zähne am HSV-Zentrumsblock aus, sondern umspielte ihn in Halbzeit zwei gezielt über die Außenpositionen. So wurde Hamburg immer wieder – auch durch intelligente Seitenverlagerungen – auseinandergezogen, sodass die Kompaktheit aufbrach. Das Verschnörkelte wich dem Einfachen.

Ein Punktgewinn der Mentalität

So legte sich Hertha seinen Gegner im zweiten Durchgang überlegt zurecht – und drückte auf den Ausgleich. Die deutlichen Verbesserungen durch Anpassungen hatten das Kräfteverhältnis nach dem Pausentee gedreht – und Hertha in der 86. Minute den absolut verdienten 1:1-Ausgleich beschert.
 
Das Tor von Rechtsverteidiger Jonjoe Kenny war einerseits Ausdruck einer bemerkenswerten Mentalitätsleistung, die Hertha im zweiten Durchgang zeigte. Die Berliner gaben sich nie auf, sondern schraubten beharrlich am Ausgleichstor und schluckten durch viel Präsenz und Kampf den eigentlichen Heimvorteil des HSV. Auch trotzte Hertha einigen Widerständen: Mit Reese und Kevin Sessa fehlen zwei wichtige Spieler langfristig, doch auch Michael Cuisance, Palko Dardai, Florian Niederlechner mussten kurzfristig passen. Hinzu kam die Verletzung von Innenverteidiger Gechter nach 63 Minuten.

Hertha-Choreo beim Heimspiel gegen Eintracht Frankfurt (Imago/IMAGO / Jan Huebner)
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"Wir nehmen das Selbstvertrauen mit, dass das, was der Trainer vorgibt, funktioniert"

"Ich bin sehr stolz - gerade auf die Art und Weise", sagte Diego Demme nach Abpfiff. Damit ist zwar auch die Kampfleistung, aber vor allem das Spielerische gemeint. Hertha rannte in der 2. Halbzeit – wie meist in der Vorsaison – nicht einfach nur blind-wütend an, spielte einen langen Ball nach dem anderen in den Sechszehner, um durch gut Glück irgendeinen Zufallsball vor den Fuß oder Kopf zu bekommen.
 
Nein, Hertha spielte dominanten Ballbesitzfußball. Die Berliner verzeichneten im zweiten Durchgang 69 Prozent Ballbesitz – und wussten ihn durch kluge Läufe, gutes Positionsspiel und das Bespielen der Halbräume konstruktiv zu nutzen. Herthas Spiel hatte System. Hier ist eine klare Weiterentwicklung zur Vorsaison und das Wirken des neuen Trainerteams zu erkennen.
 
"Wir nehmen das Selbstvertrauen mit, dass das, was der Trainer vorgibt, funktioniert - wenn wir den Ball laufen lassen, wenn wir einfach spielen, um in die Zwischenräume zu kommen und dann zu flanken", so Kapitän Toni Leistner. Auch Fiél selbst zeigte sich mit der Leistung in der zweiten Halbzeit zufrieden: "Ich weiß, das Wort 'Geduld' gibt es im Fußball nicht, aber das heute war ein Schritt in die Richtung, in der ich die Jungs haben will. Der Punkt ist am Ende verdient." Die Hoffnung ist, dass der Punktgewinn nun für eine mentale Befreiung, 90 konstante Minuten und weitere Punkte sorgt. Für den Aufstiegstraum – und für Fiéls Haupthaar.

Sendung: rbb|24 inforadio, 11.08.2024, 11 Uhr