Stadion-Blindenreporter bei Hertha BSC Die Augen der Sehbehinderten
Dank Herthas ehrenamtlicher Blindenreporter entgeht auch sehbehinderten Fußballfans im Olympiastadion nichts. Und dennoch stoßen Stadionbesucher wie Johannes Lobinger immer wieder an Grenzen, die jeder Herthaner nur zu gut kennt.
Übersteiger und Blutgrätschen auf dem Rasen, Choreos und Pyrotechnik in den Fankurven: All das können sehbehinderte und blinde Fußballfans nicht sehen. Um dafür zu sorgen, dass sie trotzdem in den vollen Stadiongenuss kommen, sind bei jedem Hertha-Heimspiel ehrenamtliche Blindenreporter im Einsatz. Sie machen Menschen wie Johannes Lobinger glücklich. Lobinger ist Hertha-Fan und sehbehindert – er kann höchstens schemenhaft wahrnehmen, was auf dem Rasen geschieht. Diese Beeinträchtigung hält ihn jedoch nicht davon ab, seit über zehn Jahren zu den Heimspielen ins Olympiastadion zu gehen.
Seine Vorliebe für die "Alte Dame" entwickelte Lobinger allerdings erst über Umwege – und im zweiten Anlauf. "Meine erste Liebe war der Club aus Nürnberg. Für Hertha habe ich als Kind nie groß etwas empfunden", räumt er ein. "Ende der Neunziger war ich mal bei einem Spiel von Hertha gegen den HSV, da gab es aber noch nicht so etwas wie Audiodeskription. Erst als ich nach meiner Ausbildung im Jahr 2011 wieder nach Berlin zurückgekehrt war, war ich in der Saison 2011/12 beim Stadtderby gegen Union. Bei Minusgraden, total verpackt und haste nich' jesehen. Das hat mich gefesselt – und seit sechs, sieben Jahren habe ich jetzt eine Dauerkarte."
Hertha-Fan Johannes Lobinger (im grauen Kapuzenpullover) beim Spiel gegen Werder Bremen
"Tom ist eine Hörfunklegende"
Die Partien seines Lieblingsvereins auf der heimischen Couch "nur" im Radio zu verfolgen, kommt für ihn nicht in Frage: "Die ganze Atmosphäre kriegst du nur live so richtig mit: dass du mitsingen kannst; dass du mittanzen kannst; dass du die Fangesänge so detailliert hörst. Und um am Ende richtig mitreden zu können, brauchst du den Audio-Kommentar."
Inzwischen werden Stadion-Blindenreportagen von allen 36 Clubs der 1. und 2. Fußball-Bundesliga angeboten. Deutscher Vorreiter war im Jahre 1999 der Verein Bayer 04 Leverkusen. Seit 2006 sind ehrenamtliche Blindenreporter auch bei Hertha-Heimspielen im Einsatz. Bei jeder Partie berichten vier Reporter aus dem Olympiastadion. Zwei von ihnen sitzen im Block B, unweit der rund 40 sehbehinderten Anhänger der "Alten Dame", die regelmäßig ins Stadion kommen. Zwei weitere Reporter sitzen auf der Pressetribüne im Oberring und kommentieren von dort aus einen Livestream, um das Stadionerlebnis auch zu allen beeinträchtigten Menschen zu transportieren, die nicht vor Ort anwesend sein können. Darüber hinaus fungieren die Blindenreporter als Helfer und Ansprechpartner für die Sehbehinderten. Sie stellen den Fans die nötigen Funkgeräte und Kopfhörer für die Übertragung zur Verfügung, begleiten die Stadionbesucher zu ihren Plätzen und stehen für alle weiteren Anliegen bereit.
Einer von ihnen ist Tom Zielaskowski, über den Johannes Lobinger sagt: "Tom ist hier eine Hörfunklegende. Es tut sehr gut, jemanden zu haben, der aus jahrzehntelanger Erfahrung spricht." Der gelernte Verlagskaufmann Zielaskowski ist seit 13 Jahren als ehrenamtlicher Blindenreporter bei Hertha-Heimspielen im Einsatz.
Die Spieler sind für mich wie Matchbox-Autos. Da könnte ich auch nicht sehen, ob das Nummernschild dran ist – obwohl alle anderen Zuschauer wahrscheinlich die Rückennummern lesen können.
Stärkerer Fokus auf Verortung
Im Gegensatz zu traditionellen Radioübertragungen legen die Blindenreporter "mehr Wert auf das Thema Verortung. Weil wir natürlich auch Feedback von den Blinden bekommen, dass man beim Zuhören klar einschätzen kann, wo sich der Ball und die Spieler gerade befinden", betont Zielaskowski.
"Ich bin auch darauf angewiesen, dass die Details geschildert werden. Die Spieler sind für mich wie Matchbox-Autos. Da könnte ich auch nicht sehen, ob das Nummernschild dran ist – obwohl alle anderen Zuschauer wahrscheinlich die Rückennummern lesen können", sagt Johannes Lobinger. Darüber hinaus sei es den sehbehinderten Fans besonders wichtig, ein Gespür dafür zu bekommen, was abseits des Rasens – auf den Rängen – passiert. "Ich versuche zu hören, was die Ostkurve so singt und verlasse mich darauf, dass die Reporter uns Choreos beschreiben, wenn es welche gibt", so Lobinger.
Ein Wunsch, den die Reporter bestmöglich zu erfüllen versuchen. "Wir schauen natürlich auch auf Randbereiche und nehmen Störungen von der Tribüne wahr. Wir hatten zum Beispiel mal eine pyrotechnische Intensivberieselung – allein der Geruch kann den Sehbehinderten ja schon Angst machen. Wir sind also die Augen, die den Blinden beschreiben, was drumherum alles vor sich geht. Was passiert im Gäste-Fanblock? Was gibt es für eine Choreo? Das ist auch das, was einen von einem klassischen Radiokommentator unterscheidet", sagt Zielakowski.
Die schönen gemeinsamen Momente und die Nähe zu den beeinträchtigten Menschen seien das, was die Tätigkeit für Zielakowski vor allem so besonders und erfüllend mache. "Diese Tätigkeit bringt unglaublich viel Spaß, Freude und Erfüllung. Da bauen sich auch mal Freundschaften auf."
Ein möglicher Abstieg als Glücksfall
Auch wenn Lobinger glücklicherweise Freunde habe, die ihn gelegentlich ins Stadion begleiteten, stoße er als treuer und bekennender Anhänger der Blau-Weißen immer wieder an Grenzen, die auch jeder andere Hertha-Fan kennt. Er berichtet, dass er zwar eine Dauerkarte habe, gerade im Winter häufig aber doch dazu verdammt sei, die Spiele zu Hause zu verfolgen. Es sei nicht immer leicht, jemanden dafür zu begeistern, mit ihm ins Olympiastadion zu gehen, gerade dann, wenn Hertha schlecht spiele und das Berliner Schmuddelwetter sein Übriges tue. Ohne Begleitperson ins Stadion zu gehen, sei keine Option, sagt Lobinger. "Dafür gibt es zu viele Menschen, die kreuz und quer laufen. Spätestens ab der Ankunft am Bahnhof wäre es für mich allein zu gefährlich."
Umso mehr genießt er es, wenn er dann doch ins Stadion gehen kann, wie er sagt. Wie zuletzt am Samstag, zum Heimspiel gegen den SV Werder Bremen. Enttäuschende Ergebnisse und die prekäre Lage der Herthaner werden da gerne mal zur Nebensache. Angesprochen auf die sportliche Situation der "Alten Dame", muss Lobinger kurz lachen. Ob er noch an den Klassenerhalt glaube? "Ach, für ein Ja oder Nein ist es noch zu früh. Ich würde sagen: Zu 20 Prozent schaffen wir es und zu 80 Prozent sind wir weg."
Doch natürlich bliebe er seiner Hertha auch in der 2. Bundesliga treu. Für einen Abstieg in die Zweitklassigkeit sei er gewappnet – nicht zuletzt dank einer gesunden Portion Galgenhumor. "Wenn ich ein bisschen Glück habe, darf ich dann ja Nürnberg gegen Hertha sehen. Und mit noch ein bisschen mehr Glück kommt Dresden auch noch dazu. Ich habe ein paar Dresdner Freunde und dann hätten wir ein paar schöne Spiele, wo wir hin- und herfahren könnten."
Sendung: rbb24, 24.04.2023, 18 Uhr