Sepp Kuss gewinnt Vuelta Aschenputtel im "Roten Kleid"
Die erstaunliche Wandlung des von Selbstzweifeln geplagten Edelhelfers Sepp Kuss zum "König der Vuelta".
Der Radsport schreibt noch Märchen. Viele Jahre lang war Sepp Kuss der Vorzeige-Proletarier des Pelotons. Ging es bei großen Rundfahrten in die ganz hohen Berge, spannte er sich oft vors Feld. In immer gleichem Rhythmus bewegte er die Pedalen rauf und runter. Was bei ihm leicht aussah, führte bei vielen, die hinter ihm fuhren, zu Schweißausbrüchen - und zu der demütigenden Erfahrung, dass das Stück Straße zwischen ihnen und dem Hinterrad, an dem sie sich festzubeißen versucht hatten, immer größer wurde.
Schattenmann tritt ans Sonnenlicht
Nur seine Kapitäne hielten mit. Nicht unbedingt, weil sie stärker waren. Vielmehr profitierten sie davon, dass Kuss seine Tempoarbeit in den Bergen ganz ideal an die Tagesform der Chefs angepasst hatte. Kuss ist ein Schwerarbeiter, aber einer mit Taktgefühl. Jonas Vingegaard lotste er zu zwei Tour de France-Siegen, Primoz Roglic zu drei Erfolgen bei der Vuelta und dem Giro-Triumph. Und hätte sich der Slowene nicht bei der Tour 2020 von seinem Überehrgeiz derart blockieren lassen, dass er das Zeitfahren gegen Tadej Pogacar und damit die gesamte Rundfahrt verlor, dann hätte sich Kuss auch dafür schon Bienchen ins Helferbuch stempeln lassen können.
Bei der Spanienrundfahrt 2023 erfuhr der US-Amerikaner nun eine Wandlung. "Ich bin eigentlich ein Typ, der lieber im Schatten bleibt. Ich hatte auch nicht so viel Selbstvertrauen, zweifelte oft an meiner Leistung", erzählte er der Sportschau bei der Vuelta. Für ihn sei es nicht nötig, dass das ganze Team ihn schütze, erklärte er weiter, denn das sei "mit der Verpflichtung verbunden, die Anstrengungen meiner Teamkollegen dann auch zu belohnen."
Statt dem Druck eines Leaders ausgesetzt zu sein, der vollendet, wofür die anderen ackern, bevorzugte er das ackern selbst - ganz so wie die Märchengestalt Aschenputtel. Der war auch keine Hausarbeit zu schwer, zu dreckig oder zu monoton. "Ich liebe diesen Sport, ich fahre gern Rad. Für mich ist Training auch nicht Arbeit, sondern eben das, was ich gerne tue", bekundete Kuss bei dieser Vuelta.
Mentale Wandlung
In Spanien wurde er nun jedoch selbst zum Anführer. Und anders als im Märchen erlöste ihn nicht ein Prinz oder eine Prinzessin. Vielmehr warf er die Zweifel davon und machte sich selbst zum König. "Dieses Jahr und ganz besonders die Vuelta stellen einen Wendepunkt für mich dar. Ich habe vor allem viel mehr Selbstvertrauen. Beim Giro war ich mir nicht sicher, wie es werden würde, denn ich fuhr den Giro niemals zuvor auf einem hohen Niveau. Aber als ich da war, dachte ich: Oh ja, ich bin in richtig guter Form. Und auch mental wusste ich, dass ich gut bin. Die Tour war dann ein weiterer Schritt nach vorn. Da bekam ich das Selbstbewusstsein, wirklich mit den besten Jungs mitfahren zu können. Und bei der Vuelta jetzt, mit dem Führungstrikot, bin ich in der Lage noch mehr zu tun, als ich dachte. Es ist vor allem mental anders, mehr als physisch", fasste er seinen Transformationsprozess zusammen.
Der äußert sich zunehmend darin, dass er nicht nur auf dem Rad Exzellentes leistet, sondern auch intern Forderungen stellt. "Wir haben uns nach der Angliru-Etappe zusammengesetzt und daraufhin etwas unsere Herangehensweise verändert", sagte Kuss. Er selbst war die treibende Kraft dabei. Die Effekte sah man am Folgetag: Primoz Roglic hielt sich mit Attacken zurück. Jonas Vingegaard steckte nur mal die Nase heraus, um eine Attacke des Bahrain-Victorious-Kapitäns Mikel Landa zu neutralisieren. Im Zielsprint der Favoriten legte er dann sogar eine Kunstpause ein und ließ die Uhr herunterticken. Sieben Sekunden mehr Vorsprung auf ihn hatte Kuss danach.
Es war ein wichtiges Statement des zweifachen Tour-de-France-Siegers. Es unterstrich, dass Jumbo nun in erster Linie für Kuss fahren würde und auch die Stars das akzeptieren. Roglic demonstrierte sein Einverständnis am Samstag, als er eine nur halbherzige Attacke des Spaniers Enric Mas mit ein paar energischen Pedaltritten unterband und brav den Mann in Rot heranführte.
Ein Bild der Eintracht
Nach ein paar Balance-Unsicherheiten kreierte das Trio auf den letzten Metern der 20. Etappe in der Sierra de Guaderrama schließlich auch das Posterbild für den Festsaal im Hauptsitz des Rennstalls. Arm in Arm rollten sie die letzten Meter, Kuss in der Mitte, der Däne links von ihm, der Slowene rechts. Das Herzen und Umarmen ging hinter dem Zielstrich weiter.
Für den Radsport selbst ist der neue Rundfahrtsieger gut. Denn mit Kuss können sich viele Fans identifizieren. Er ist wie sie, weil er eben Radsport liebt, weil er normal wirkt, stets aufgeschlossen Fragen beantwortet und aus seinem Befinden auch kein großes Geheimnis macht. Vor allem aber ist er einer, der nach vielen Dienstjahren als Helfer nun selbst einmal im Rampenlicht steht.
Lust auf neue Erfolge
Was die Dominanz des Teams Jumbo-Visma, dessen drei Fahrer das Vuelta-Podium komplett eingenommen haben, für den Radsport und für die nächsten Grand Tours bedeutet, wird man dann sehen. Interessant ist auch, ob die fragile Allianz die nächsten Belastungen übersteht. Ganz oben stehen kann schließlich immer nur einer. Und der bei dieser Vuelta 29 Jahre alt gewordene Kuss Geschmack hat an seiner neuen Rolle gefunden. "Ich habe neue Dinge bei mir selbst entdeckt, bei meinem Potenzial für Grand Tours. Ich würde das gern wiederholen", sagte er nach der 20. Etappe am Samstag.
Von den Fesseln der Selbstzweifel befreit nimmt er also Kurs auf neue Horizonte. Die Helferolle wolle er aber auch bei Gelegenheit wieder übernehmen, versicherte er. Der Radsport hat eine neue Vorzeigefigur, einen Star, der aufgrund seiner Helferkarriere zuvor und seiner selbst im Moment des größten Triumphs noch gezeigten Bodenständigkeit sogar extrem populär zu werden verspricht.