Das Vorderrad von Jonas Vingegaard

Reifenrevolution bei der Tour de France Breiter, weicher, schneller - auf die Reifen kommt es an

Stand: 21.06.2024 08:49 Uhr

Der moderne Radsport lässt viele Weisheiten früherer Epochen alt aussehen. Eine davon ist die Formel, dass schnelle Reifen schmal sein müssen.

In den Zeiten von Lance Armstrong und Jan Ullrich zogen die Mechaniker Pneus von 23 mm Breite auf und pumpten Luft mit 8 Bar oder sogar 8,5 Bar Druck hinein. Schmal + hart = schnell, lautete die Formel. Bei Tadej Pogacar maßen die Technikspezialisten der Plattform Bikeradar während der vergangenen Tour de France allerdings Reifenbreiten von 31,3 mm vorn und 32,2 mm hinten. Damit ist der Slowene nicht allein.

Geringerer Rollwiderstand

"Ja, das ist tatsächlich die Entwicklung der letzten Jahre. Die Reifen werden breiter, die Felgen auch. Der Grund ist der geringere Rollwiderstand breiterer Reifen", erzählt Jenco Drost der Sportschau.

Er ist Head of Performance Equipment bei Visma Lease a Bike, also der Technikentwicklungschef beim Rennstall, der die jüngsten beiden Frankreichrundfahrten gewonnen hat. Und seine Fahrer, inklusive Titelverteidiger Jonas Vingegaard werden mit Reifenbreiten zwischen 26 und 30 mm an den Start gehen, erklärte er. 

Schlechtere Aerodynamik

"Mit breiteren Reifen hat man eine breitere Auflagefläche auf dem Untergrund. Und das verringert den Rollwiderstand", erklärt Drost die Physik dahinter. Die breitere Auflagefläche bedeutet zugleich eine kürzere Dauer der Auflage jedes Segment des Reifens - und das beeinflusst entscheidend den Rollwiderstand.

Allerdings gibt es auch unerwünschte Nebeneffekte. "Man büßt etwas bei der Aerodynamik ein. Und das ganze System wiegt dann auch etwas mehr. Es kommt darauf an, die richtige Balance zu finden", meint Drost. Seiner Erfahrung nach gibt es fünf Watt Einsparung dank weniger Rollwiderstand. Hinnehmen müsse man etwa ein Watt Verlust durch schlechtere Aerodynamik.

Schmalere Reifen für die Berge

Der Faktor Gewicht zählt vor allem in den Bergen. Dort werden dann aber ohnehin schmalere Pneus auf schmaleren Felgen montiert. Drosts Top-Fahrer Vingegaard griff bei der vergangenen Tour de France aus Gewichtsgründen sogar auf die eigentlich schon ausgemusterten, aber eben leichteren Schlauchreifen zurück, statt auf die inzwischen zum Standard gehörenden schlauchlosen Systeme.

Die Einsparungen, die Drost nennt, liegen allerdings ein ganzes Stück unterhalb der Erwartungen, die man vor einigen Jahren hatte, als die Breitreifenmode ihren Anfang nahm. "Bikeradar" verglich bereits 2021 Reifen von 26 mm Breite mit 30-mm-Reifen.

Breitere Reifen bedeuten weniger Kraftaufwand

Beim Rollertest auf flachem Untergrund bei 40 km/h Geschwindigkeit und einem gleichen Reifendruck für beide von 6,2 Bar kam bei einer fünfminütigen Belastung ein Unterschied von 14 Watt heraus. 14 Watt musste man auf breiteren Reifen weniger treten, um die Geschwindigkeit von 40 km/h zu erreichen. Das liegt knapp unterhalb der Durchschnittsgeschwindigkeiten der Sieger der jüngsten drei Frankreichrundfahrten.

Eine Einsparung von 14 Watt über die gesamte Dauer einer Tour de France kann ein rennentscheidender Faktor sein. Kein Wunder also, das Pogacar bei der vergangenen Tour seine Reifen auf 31 und 32 mm aufblähen ließ.

Rahmenbauer mussten mehr Platz einplanen

Warum das alles nicht schon früher geschah? "Der Ball der Innovation konnte erst rollen, als die Rahmenbauer mehr Platz für breitere Reifen ließen", fasst Drost, seit 2021 als Technik-Guru beim niederländischen Spitzenteam, die Entwicklung zusammen. 

Und um es noch ein bisschen komplexer zu machen, muss man den Faktor Luftdruck in den Reifen beachten. Weniger Druck bedeutet mehr Sitzkomfort, weil die Schläge durch Unebenheiten der Strecke besser gedämpft werden. Vibrationen schlagen sich auch negativ auf die Geschwindigkeit nieder. Denn die Kräfte wirken dort vertikal, im rechten Winkel also zur Fahrtrichtung. Damit geht Energie für die Vorwärtsbewegung verloren. Mit geringerem Luftwiderstand kann man diese Vibrationsverluste aber reduzieren.

Pragmatischer Mix

Aus diesem ganzen Mix an Einflussfaktoren wählt Drost für Visma Lease a Bike einen Luftdruck zwischen 4 Bar bei rauen Untergründen und 5 Bar bei normalem Belag sowie Reifenbreiten zwischen 26 und 30 mm. Bei der Entscheidung muss er - wie auch seine Kollegen der anderen Rennställe - Perfektion mit Pragmatik koppeln.

Zwar wechseln im Rennen sowohl die Straßenbeläge als auch das Profil. Für jede Situation könnte man daher den idealen Reifen bringen. Man bekommt ihn aber während des Wettkampfs nicht unter den Fahrer. "Theoretisch könnten Radwechsel Sinn machen. Aber praktisch ist das so gut wie undurchführbar. Man kann zwar einen Fahrplan dafür aufstellen. Aber du weißt nie, wie das Rennen läuft. Das ist einfach zu riskant", meint Drost zur Sportschau.

Und so wird es trotz aller Tests und Innovationen Radwechsel weiterhin vor allem bei Defekten und manchmal im Zeitfahren geben. Sicher ist nur, dass der Toursieger 2024 auf breiteren Reifen unterwegs sein wird als viele Vorgänger. Sicher ist aber auch, dass zu den Pionieren der Sportart noch Luft ist. Während der ersten Austragungen der Tour der Tour de France waren Holzfelgen und Reifen mit einer Breite zwischen 32 und 38 mm üblich.