Spanien-Rundfahrt Vuelta Drei Mann, ein Team, ein Ziel
Jumbo-Visma führt bei der Spanienrundfahrt eine neue Spielart des Straßenradsports ein. Der niederländische Rennstall will nicht nur das Rennen gewinnen, sondern gleich drei eigene Männer auf dem Podium platzieren. Dabei gilt es, den unbedingten Siegeswillen aller drei so zu bändigen, dass sie auch in Zukunft einander noch gerne helfen. Gelingt das, wäre es nicht nur eine Rarität im Sport, sondern auch ein Meisterstück der Gruppenpsychologie.
"Eigentlich hatte ich gedacht, dass ich heute die Beine habe, um zu gewinnen", sagte Sepp Kuss nach der 17. Etappe. Doch der Mann im roten Führungstrikot hatte beim Aufstieg über die brutalen Rampen des Angliru die Rechnung ohne seine Teamkollegen gemacht. Primoz Roglic und Jonas Vingegaard setzten sich ab. Roglic gewann auch die Etappe.
Hinter den beiden mobilisierte Kuss die letzten Kräfte. Er wurde Etappendritter, holte sich vier Bonussekunden und liegt nun mit nur noch acht Sekunden Vorsprung vor Vingegaard und einer Minute und acht Sekunden vor Roglic in der Gesamtwertung vorne.
Sympathien für Edelhelfer Kuss
Vingegaard, im Juli noch Tour-de-France-Sieger und etwas überraschend bei der Vuelta dabei, betonte seine Loyalität zum Teamkollegen, Edelhelfer und Gesamtkollegen Kuss. "Ich hoffe, dass der Abstand von acht Sekunden bis nach Madrid hält", sagte er. Aber so, wie er spricht, handelt er nicht unbedingt.
Am Angliru fuhr er seinem Teamkollegen gemeinsam mit Roglic weg. Einen Tag zuvor, auf der steilen Rampe nach Bejes, zog er ganz alleine weg, distanzierte sowohl Roglic als auch Kuss um mehr als eine Minute. Auch den Tourmalet erklomm er als Solist, nahm Kuss eine halbe Minute und Roglic noch drei Sekunden mehr ab. Es war der erste von zwei Dreifacherfolgen des Jumbo-Trios bei einer Etappe.
Am Angliru drehte sich nur die Zusammensetzung. Hier gewann Roglic vor Vingegaard und Kuss. Der Slowene zumindest unterstrich ganz klar seine Ambitionen auf den Gesamtsieg. Nach seinem Tageserfolg am Angliru danach gefragt, auf wen er wetten würde für den Geamtsieg, nannte er wie aus der Pistole geschossen sich selbst. Er lenkte dann ein, und betonte: "Ich bin der erste, der Sepp wünscht, dass er vorne bleibt. Aber auf der anderen Seite habe ich auch eine Verantwortung, das Beste aus mir herauszuholen. Am Ende entscheidet die Straße, wer diese Vuelta gewinnt."
Bedingte Freibriefe
Tatsächlich scheint beim niederländischen Rennstall die Stallorder aufgehoben. Jeder kann, wenn er will. "Wir haben die Freiheit vom Team bekommen", bestätigte Roglic. Wichtig ist nur, den Gesamterfolg nicht zu gefährden. Das betonte wiederum Teamchef Richard Plugge. "Wir sind zur Vuelta gekommen, um sie als Team zu gewinnen. Erst mit einem Duo. Dann wurde es nach dem Tageserfolg von Sepp aus einer Ausreißergruppe heraus ein Trio. Das ist natürlich eine Veränderung. Aber in unserer Herangehensweise, dass wir alles mit allen besprechen, hat sich nichts geändert", meinte Plugge zur Sportschau.
Tatsächlich attackieren sich die drei erst auf den letzten Kilometern. Und sie achten auch darauf, dass nicht Fahrer anderer Teams davon profitieren.
Radsport nach Playstation?
Der beste Nicht-Jumbo-Fahrer hat auf Platz vier schon vier Minuten Rückstand. Da kann kaum noch etwas anbrennen ganz vorn. "Sie können es jetzt spielen wie auf der Playstation", sagte Titelverteidiger Remco Evenepoel mit einer Mischung aus Resignation, Respekt und Ironie. Der Belgier hatte am Tourmalet einen schwarzen Tag, verlor 27 Minuten und musste alle Klassementhoffnungen begraben. Auch sein Ausfall trug zur Dominanz der Jumbo-Truppe bei.
Den Playstation-Vergleich hört man bei Jumbo nicht gern. "Nein, es ist nicht wie mit der Playstation. Wir müssen jeden Tag unser Bestes tun und unseren Plan umsetzen. Ob dann etwas für die Geschichtsbücher herauskommt, interessiert mich nicht besonders", meinte Teamchef Plugge zur Sportschau. Er wollte auch keine Präferenz für einen seiner Fahrer nennen. Roglic immerhin meinte, wer gewinnen soll, das bestimmen die Bosse. Beim Slowenen weiß man aber oft nie genau, was er als Scherz meint und was tiefster Ernst ist.
Untereinander scheinen die drei, die sonst gemeinsam an einem großen Plan arbeiten, jetzt aber gegeneinander um die Krone der Spanienrundfahrt kämpfen, noch ein gutes Verhältnis zu haben. Keiner nimmt dem anderen beim Frühstück die Pasta vom Teller oder sendet finstere Blicke aus. "Nein, wir haben weiterhin Spaß miteinander, im Bus, im Frühstücksraum, wo auch immer. Es ist doch einfach eine feine Sache, jetzt Erster, Zweiter und Dritter zu sein", versicherte Roglic.
Kritische Stimmen
Aus der Perspektive von Jumbo-Visma stimmt das sicher. Für den Sport selbst ist eine derartige Dominanz aber Gift. Und natürlich fordert das auch kritische Stimmen heraus. Ex-Profi Jerome Pineau und der ehemalige Festina-Trainer Antoine Vayer unterstellten Jumbo-Visma Motordoping, also manipulierte Räder. Das Team wies den Vorwurf als haltlos zurück. Belastbare Beweise dafür gibt es bislang auch nicht.
Nicht zurückweisen kann der Rennstall den positiven Dopingbefund von Michel Heßmann, im Mai einer der Helfer von Roglic bei dessen Sieg beim Giro d’Italia. Im Verfahren, das die Freiburger Schwerpunktstaatsanwaltschaft gegen den jungen deutschen Radprofi eingeleitet hat, gibt es aber noch keine Neuigkeiten. "Die Ermittlungen dauern noch an", sagte ein Justizsprecher der Sportschau.
Und so schaut man dann mit Erstaunen, mit Skepsis, auch mit Verwunderung auf die Dinge, die derzeit in Spanien geschehen. Noch nie hat im Straßenradsport ein Team alle drei Grand Tours einer Saison gewonnen - nach Vingegaards Tour-Sieg und Roglic' Triumph beim Giro wird der niederländische Rennstall also Geschichte schreiben. Und nur einmal, 1966, gab es eine Dreifachbesetzung auf dem Podium. Jumbo-Visma setzt neue Maßstäbe.