Gesamtführender muss aufgeben Giro im Ausnahmezustand - Corona schlägt Evenepoel
Remco Evenepoel muss den Giro d’Italia wegen eines positiven Corona-Tests verlassen. Das ist bitter für ihn, es befördert den belgischen Jungstar zugleich auf mythische Höhen.
Der Giro d'Italia produziert Dramatik. Am Sonntag (14.05.2023) gewann Remco Evenepoel mit dem winzigen Vorsprung von neun Hundertstelsekunden das Zeitfahren vor dem früheren Tour-de-France-Sieger Geraint Thomas. Er eroberte zugleich das Rosa Trikot des Gesamtführenden zurück. Wenige Stunden später kam aber die schockierende Nachricht: Giro-Aus wegen eines positiven Corona-Tests. "Es war eine Routinekontrolle des Teams. Natürlich bin ich sehr enttäuscht, das Rennen verlassen zu müssen. Ich hatte mich schon sehr auf die kommenden zwei Wochen Kampf gefreut", teilte er mit.
Der Dominator reist ab
Seine Abreise mischt die Karten neu beim Giro. Denn Evenepoel war bislang die prägende Figur dieser Italienrundfahrt. Er dominierte sie im Guten. Und er war auch Protagonist bei den Tiefen. Das Auftaktzeitfahren gewann er souverän. Auch danach hielt er seinen härtesten Rivalen Primoz Roglic in Schach. Er bezwang ihn beim Zwischensprint um Bonussekunden, auch beim ersten Bergsprint am Freitag war er vor dem Slowenen.
Im Überschwang seiner Kräfte provozierte er Roglic auch verbal. "Ich sehe, dass er nervös ist", sagte er. Das nahm er wenig später zurück. "Ihr Journalisten macht aus einer kleinen Sache gleich eine große. Ich habe mich nur daran erinnert, dass ich etwas nervös war, als ich bei der Katalonienrundfahrt hinter Primoz zurücklag. Und da dachte ich, dass es ihm jetzt genauso gehen muss", versuchte er seinen früheren Spruch wieder einzufangen.
Allerdings musste er auch richtige Rückschläge hinnehmen. Am Samstag verlor er 14 Sekunden auf Roglic. Und er stürzte auch schon zwei Mal. Einmal war ein streunender Hund daran Schuld.
Parallelen zu Pantani und Merckx
Das erinnerte die historisch beschlagenen Radsportfans an Marco Pantani. Der kam beim Giro 1997 durch eine Katze zu Fall, die völlig desorientiert ins Peloton rannte. Pantani musste am Folgetag wegen seiner Blessuren den Giro verlassen. Evenepoel hingegen machte weiter. Der ehemalige Fußballer nutzte sogar die Gunst der Stunde des Starts in Neapel am Folgetag, um mit einem Ball in den Vereinsfarben des neuen italienischen Meisters SSC Neapel zu jonglieren.
Evenepoel ist ein Künstler auf ganz vielen Bühnen. Auch das mediale Inszenierungsgeschäft beherrscht er perfekt.
Dass er nun doch den Giro verlassen muss, ist einerseits natürlich ein tragischer Moment. Die Covid-Infektion erkläre auch, warum er beim Zeitfahren am Sonntag Thomas nur so knapp geschlagen habe, vermeldete forsch sein Teamchef Patrick Lefevere über Twitter.
Zugleich hebt ihn das Aus auf die mythischen Höhen von Helden wie Pantani und Eddy Merckx. Der Italiener schied schließlich nach der Katzenkollision vorzeitig aus. Und auch Merckx musste einen Giro d'Italia vorzeitig verlassen – und das wie Evenepoel als Träger des Rosa Trikots. Ihm wurde 1969 ebenfalls ein positiver Test zum Verhängnis. Damals handelte es sich allerdings um einen Dopingtest.
Dass sich Evenepoel noch stärker, noch gereifter nach diesem Missgeschick zurückmelden wird, darf man erwarten. Selbst der Horrorsturz bei der Lombardeirundfahrt 2020 verhinderte seinen Aufstieg nicht. Sie verzögerte ihn, Evenepoel kam aber noch entschlossener und mental wie physisch kompakter zurück. Nicht umsonst gewann er im vergangenen Jahr die Spanienrundfahrt und das WM-Straßenrennen. Vielleicht zieht er jetzt sogar den bislang erst fürs nächstes Jahr eingeplanten Tour de France-Start vor.
Beim Giro werden die Karten neu gemischt
Auf den Giro hat sein Aus natürlich Auswirkungen. "Es wird die Dynamik des Rennens verändern", prognostizierte Bora hansgrohe-Kapitän Lennard Kämna. "Ineos kann jetzt in den Verteidigungsmodus übergehen, anstatt angreifen zu müssen", sagte er am Ruhetag. Die beiden Ineos-Kapitäne Thomas und Tao Geoghegan Hart liegen um nur fünf Sekunden getrennt auf den Plätzen 1 und 3. Zwischen ihnen liegt Primoz Roglic. Bis Sonntag war er der wichtigste Herausforderer von Evenepoel. Jetzt ist er weiter in der Herausforderer-Rolle. Doch statt mit dem einen Weltmeister hat er es jetzt mit dem Doppel aus Ex-Toursieger und Ex-Giro-Triumphator zu tun. Auch das ist ein faszinierender Dreikampf. Denn Roglic gewann bisher drei Mal die Vuelta. Dass die Sieger aller drei Rundfahrten um die Giro-Krone kämpfen, ist ein historisches Ereignis.
Den größten Unsicherheitsfaktor allerdings stellt ein Wesen ohne Rad und ohne Startnummer dar: Das Coronavirus beeinflusst schon jetzt diesen Giro massiv. Vor Evenepoel mussten unter anderem Zeitfahrweltmeister Filippo Ganna bei Ineos, Boras Klettertalent Giovanni Aleotti und Rigoberto Uran wegen eines positiven Tests das Rennen verlassen. Jumbo-Visma, das Team von Roglic, tauschte noch vor dem Giro-Start zwei Fahrer wegen Corona-Infektion aus. Das Virus fährt aktiv mit bei diesem Giro.