Paralympics 2024 in Paris Refugee-Team: Neun als Hoffnung für 120 Millionen
Das Refugee Team, das eigene Paralympics-Team der Geflüchteten, ist in Paris so groß wie nie zuvor. Dass es das Team überhaupt gibt, ist eine Botschaft. Und jeder einzelne Starter sendet seine ganz eigene Botschaft.
Hoffnungslos, aussichtslos, sinnlos. So fühlte sich das Leben von Zakia Khudadadi an. Da war sie gerade erst zehn Jahre alt. "Mein Leben war ein ständiger Kampf. In Afghanistan, wo ich geboren und aufgewachsen bin, wurden Behinderungen nicht verstanden und Menschen mit Einschränkungen sehr stark diskriminiert", blickt die heute 25-Jährige zurück. Khudadadi wurde ohne linke Hand geboren. Ausreichend als Grund, sie auszugrenzen.
Khudadadi: "Behinderung ist keine Einschränkung"
"Um nicht permanent schikaniert zu werden, habe ich versucht, meine fehlende Hand mit einem Schal zu vertuschen. Mit zehn Jahren habe ich einen Suizidversuch unternommen, weil ich mich von einer Gesellschaft überfordert und ausgegrenzt gefühlt habe, die mich und meine Behinderung nicht verstanden hat." Khudadadi überlebte. "Zum Glück", sagt sie heute, "denn ich kam stärker zurück. Ich habe viele Jahre dafür gekämpft, um zu beweisen, dass Behinderung keine Einschränkung ist."
Zakia Khudadadi: "Ausgegrenzt und schikaniert".
"Hatte mein Land, mein ganzes Leben verloren"
Als Para-Taekwondo-Athletin ist sie in diesen Tagen bei den Paralympics in Paris am Start. Es sind ihre zweiten Spiele, 2021 war sie noch für ihr Heimatland Afghanistan dabei. Doch nach der Machtübernahme der Taliban im Herbst 2021, den folgenden massiven Menschenrechtsverletzungen und der starken Unterdrückung von Frauen floh Khudadadi nach Frankreich. Dort musste sie von Null beginnen. "Das war sehr schwer für mich, vor allem mental mit dem Gedanken an den Krieg in Afghanistan", sagte Khudadadi kurz vor dem Start der Paris-Paralympics am Montag (26. August 2024) auf einer Pressekonferenz. "Ich hatte mein Land, ich hatte mein ganzes Leben verloren.
Zum dritten Mal Refugee-Team
Das ist drei Jahre her. Khudadadi überwand auch diese Schwierigkeiten und galt schon im Vorfeld der Paris-Paralympics in der Klasse von 44 bis 47 Kilogramm als eine der Medaillen-Mitfavoritinnen. Am zweiten Wettkampftag trat sie an - allerdings nicht für ihr Geburtsland Afghanistan, sondern für das Refugee-Team. Sie gewann Bronze.
Mit acht Athletinnen und Athleten und einem Guide ist das Paralympics-Flüchtlings-Team in Paris so groß wie noch nie. Khudadadi ist die erste Athletin des Teams, die eine Medaille gewann. Zum dritten Mal ist ein Refugee Team bei den Paralympics dabei, es soll symbolisch alle Menschen auf der Flucht repräsentieren. Laut UN-Flüchtlingshilfswerk betrug ihre Zahl zuletzt rund 120 Millionen.
Neun Starter, sechs Sportarten, sechs Länder
Mitglieder des Refugee Teams sind in Paris in sechs verschiedenen Sportarten dabei, die Teilnehmenden kommen aus sechs verschiedenen Ländern. Neben Khudadadi und Hadi Hassanzada im Taekwondo wurden Sprinter Guillaume Junior Atangana mit Guide Donard Ndim Nyamjua, Triathlet Ibrahim Al Hussein, Kugelstoßer Salman Abbariki, Gewichtheber Hadi Darvishpoor, Tischtennisspieler Syed Amir Hossein und Fechter Amelio Castro Grueso vom Internationalen Paralympischen Komitee nominiert.
Das Flüchtlingsteam des IOC bei den Paralympics
Jeder der neun Starter im Refugee Team hat eine eigene bewegende Geschichte. Sprinter Guillaume Junior Atangana wollte einst ein großer Footballer werden, verlor schon als Kind sein Augenlicht, floh aus Kamerun nach England – und ist jetzt sogar Fahnenträger des Refugee Teams bei der Eröffnungsfeier. Ibrahim Al Hussein verlor im Bürgerkrieg in Syrien 2012 bei einer Explosion ein Bein, als er versuchte, einen Freund zu retten. Ohne Geld floh er nach Griechenland. In Paris erlebt er nun seine dritten Paralympics.
Guillaume Junior Atangana (re.) trainiert mit seinem Guide.
Hassanzada: "Geschichte der Vertreibung"
Amelio Castro Gruesos Mutter starb, als er 16 Jahre alt war, vier Jahre später verlor er in einem Autounfall seine Beine. Nach Drohungen gegen ihn floh er aus seiner Heimat Kolumbien. Der 32-Jährige lebt heute in Italien. Hassanzada ist wie Khudadadi Taekwondo-Sportler und wurde ebenfalls in Afghanistan geboren. Als er ein Kind war, floh seine Familie in den Iran und kehrte nach Afghanistan zurück, als Hassanzada 20 Jahre alt war. "Wir dachten, das Land wäre wieder friedlich. Doch ich lag falsch. So floh ich erst in die Türkei und später nach Österreich", so der 31-Jährige. "Meine Lebensgeschichte ist hauptsächlich eine Geschichte der Vertreibung."
Gewichtheber Darvishpoor: Weltrekord 2028
Neben den eigenen Geschichten stehen die eigenen Ambitionen. Gewichtheber Hadi Darvishpoor kann nach einer schweren Muskelverletzung erst seit drei Jahren in Deutschland zielgerichtet trainieren. Der zweifache deutsche Para-Gewichtheber-Meister in der sitzenden Klasse will die Paralympics in Paris als Übergangsstation nutzen. In vier Jahren in Los Angeles peilt der 37-jährige gebürtige Iraner dann einen neuen Weltrekord an.
Vier Athleten mit Medaillenchancen
Schon in Paris haben Atangana, Hossein, Grueso und Khudadadi vorsichtige Medaillen-Ambitionen. Sprinter Atangana verpasste 2021 in Tokyo Paralympics-Bronze im 400 Meter T11-Event als Vierter nur knapp, Tischtennisspieler Hossein gewann 2021 die Asien-Spiele der Junioren, Rollstuhl-Fechter Grueso wurde in diesem Jahr Dritter der Amerika-Meisterschaften.
Khudadadi: Athletin und Menschenrechtsaktivistin
Und auch Khudadadi feierte in diesem Jahr bereits internationale Erfolge. Die Para-Taekwondo-Europameisterin von 2023 gewann in diesem Jahr den Qualifikations-Wettkampf für die Paralympics. "Das war am 8. März, dem Internationalen Frauentag. Ich habe meine Goldmedaille allen Frauen in meinem Heimatland gewidmet. Den Frauen, die ihrer grundlegendsten Rechte beraubt sind", erklärt die Kampfsportlerin, die nicht nur als Sportlerin sondern auch als Menschenrechtsaktivistin in Paris auftritt: "Ich bin hier, um für die Rechte der Frauen in meinem Land zu kämpfen. Für Geflüchtete und für Menschen, die unfreiwillig in gefährliche Situationen geraten sind."
"Gesamtes Team ist Vorbild"
Und so hat der Start eines Teams Teams Refugee bei den Paralympics eine höhere Bedeutung. Das betont auch Teamleiter Nyasha Mharakurwa: "Das gesamte Team ist ein Vorbild für uns. Unabhängig von ihren schwierigen Lebensumständen haben diese Athleten einen Weg gefunden, bei den Paralympics auf höchstem Niveau dabei zu sein."