Frust bei Olympia Dopingkontrollen: Paris droht Londoner Horrorbilanz
Dass während der Olympischen Spiele in Paris bislang kaum Doper erwischt wurden, wundert in einer desillusionierten Szene niemanden. Es braucht an der Seine auch keine neuen Dopingfälle - der Frust bei sauberen Athleten kann offenbar jetzt schon kaum noch größer werden.
Noch hat die Zahl vier kein hochrangiger Funktionär in Paris lobend erwähnt. Vier positive Doping-Tests sind es, die bei den Olympischen Spielen in Paris bislang aktenkundig geworden sind. Sie betrafen nur Athleten aus der zweiten Reihe: zwei Judoka aus Afghanistan und Irak, außerdem eine Boxerin aus Nigeria und eine griechische Stabhochspringerin.
Häufig genug in der olympischen Geschichte hatten IOC-Präsidenten oder andere honorige Herren der Ringe eine (Zwischen-)Bilanz wie diese als Indikator für erfreulich saubere Spiele und einen effizienten Anti-Doping-Kampf lobend hervorgehoben. Nicht so in Paris. So recht glauben würde eine derartige Lobhudelei wohl ohnehin kaum noch jemand.
Cohens Phrase
Benjamin Cohen war derjenige, der den Anti-Doping-Kampf in Paris bislang noch am selbstbewusstesten verteidigte, allerdings war er quasi von Amts wegen auch dazu verpflichtet. "Wir sind hier, um sicherzustellen, dass diese Spiele sauber sind", hatte der Chef der Internationalen Test Agentur ITA gesagt, die während der Spiele für alle Anti-Doping-Maßnahmen zuständig ist. Allein ein Blick auf die schmutzige Vergangenheit der Spiele lässt diese Aussage als mehr oder weniger hohle Phrase erscheinen.
Dies sollte auch der größte Sportfan spätestens begriffen haben, seit die nachträglichen Doping-Tests von London 2012 abgeschlossen waren. Nicht weniger als 41 Medaillengewinner der damals so gefeierten Spiele an der Themse sind nachträglich über die Jahre als Dopingsünder aufgeflogen, als ihre eingefrorenen Proben mit besseren Nachweisverfahren erneut analysiert wurden. Seit Einführung der Nachtests 2004 sind insgesamt 118 olympische Medaillengewinner im Nachgang des Dopings überführt worden.
"Nur bekloppte Doper" fliegen auf
Viele kritische Begleiter des Anti-Doping-Kampfes halten es für möglich, dass auch Paris 2024 noch ein trauriges Nachspiel folgt. David Howman, der langjährige Generalsekretär der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA), sagte der ARD-Dopingredaktion, ohnehin würden während Olympischer Spiele "nur die bekloppten Doper" auffliegen. Die Hochzeit des Dopings, da sind sich Howman und alle Fachleute einig, sind immer die Wochen, Monate und Jahre der Vorbereitung vor dem Saisonhöhepunkt.
Aussagen prominenter Olympia-Doper, die im Umfeld der Spiele öffentlich wurden, zeichnen ein düsteres Bild. Victor Conte etwa, der einst Top-Sprinterin Marion Jones dopte und bei weiteren US-Stars nachhalf, behauptet, er kenne etwa 80 verbotene Mittel und Substanzen, auf die in der Trainingsphase momentan gar nicht getestet würde.
Mehr als 1000 Athleten reisten ungetestet an
Der dänische Ex-Radprofi Michael Rasmussen, der nach eigenen Angaben nahezu während seiner kompletten aktiven Karriere gedopt gestartet und nie erwischt worden war, erklärte der ARD-Dopingredaktion: Er sei "hundertprozentig sicher", dass heute "jede Menge neuartige Substanzen" im Umlauf seien, die sich noch im medizinischen Forschungsstadium befänden: "Die Substanzen werden genutzt, bevor sie überhaupt auf dem Markt gekommen sind."
Selbst wer solche Aussagen als Hörensagen abtut, kommt in Paris um alarmierende Fakten nicht herum. Etwa die Tatsache, dass aus Testbilanzen der ITA hervorgeht, dass etwa zwölf Prozent aller Starter an der Seine - also weit mehr als 1000 Sportlerinnen und Sportler - in diesem Jahr kein einziges Mal kontrolliert worden sind.
Wer nicht sucht, kann nicht finden
Und selbst wenn Tests stattfinden, sind diese häufig lückenhaft. Der ARD-Dopingredaktion liegt ein Dokument der WADA vor, das Bedenkliches belegt: Selbst wenn Urin- oder Blutproben genommen werden, wird in diesen dann gar nicht automatisch nach gängigen Substanzen wie Epo oder Wachstumshormon gesucht. In einzelnen Disziplinen oder in Sportarten wie etwa Fußball, Tennis oder Leichtathletik sollen in der Regel nur in zehn Prozent der Dopingproben nach den hochwirksamen Klassikern gesucht werden.
Auch wenn bei Olympia in Paris die Quoten womöglich höher liegen: Wer nicht richtig sucht, der kann auch nichts finden. Allerdings braucht die Szene, so scheint es, gar keine weiteren Dopingfälle in Paris - die Aufregung und der Frust sind auch so schon groß genug. Der Fall der 23 dopingverdächtigen chinesischen Schwimmer war ein bestimmendes Thema während der ersten Wettkampf-Woche, die WADA steckt auch deswegen noch immer in einer beispiellosen Vertrauenskrise.
"Aufwachen und Job erledigen"
Zwei weitere Verdachtsfälle unter Beteiligung von Chinesen, die während der Spiele öffentlich geworden waren und in denen die WADA ebenso wie bei den 23 tatenlos geblieben war, brachte das Fass bei vielen zum Überlaufen. Dass offenbar niemand in Paris häufiger getestet wurde als chinesische Schwimmer, konnte die Kritiker von ITA und WADA nicht besänftigen.
"Die Leute, die sich um das Problem zu kümmern haben, müssen endlich aufwachen und ihren Job erledigen", sagte Adam Peaty. Nicht nur für den britischen Ausnahme-Schwimmer scheinen massenhafte Tests während des Großereignisses eher ein Ausdruck von Hilflosigkeit zu sein.
Ihren Job erledigten die Kontrolleure in Paris ausgerechnet auch beim einheimischen Superstar Léon Marchand, der in allen seinen vier Einzelstarts in der La-Defense-Arena Gold gewann, eher schlecht als recht. Sie schauten im ADAMS-Meldesystem, in dem die Athleten immer ihren Aufenthaltsort für unangemeldete Dopingkontrollen hinterlegen müssen, nicht richtig nach - und suchten Marchand an der falschen Adresse.
Machtkampf auf höchster Ebene
Doch solche Ereignisse sind nur Fußnoten einer Krise, die sich längst zu einem Machtkampf auf höchster Ebene ausgeweitet hat. Auf seiner Session in Paris kurz vor der Eröffnungsfeier vergab das Internationale Olympische Komitee die Winterspiele 2034 nur unter Vorbehalt an Salt Lake City. Hintergrund: die USA und ihre Nationale Anti-Doping-Agentur USADA sind den Herren der Ringe zu kritisch, die Anti-Doping-Gesetzgebung der Sportgroßmacht („Rodchenkov-Act“) ist ihnen ein Dorn im Auge.
Wie, fragen sich viele, soll sich der Anti-Doping-Kampf in solch einer Gemengelage beruhigen?