Der chinesische Schwimmer Xu Jiayu

Neue Enthüllungen der ARD-Dopingredaktion zur Akte China Der nächste Hinterzimmerdeal der WADA

Stand: 01.08.2024 12:32 Uhr

Es gibt erneut schwere weltweite Kritik an den obersten Regelhütern im Anti-Doping-Kampf. Der Verdacht: die Vorzugsbehandlung für chinesische Athleten nach positiven Dopingproben.

Von Hajo Seppelt, Nick Butler, Peter Wozny, Sebastian Krause, Jörg Winterfeldt

Im internationalen Anti-Doping-Kampf spitzt sich die Lage während der Olympischen Spiele immer weiter zu. Nach und nach werden immer weitere Vorgänge bekannt, die belegen, dass die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) gegenüber positiv getesteten chinesischen Athleten mit auffälliger Nachsicht reagiert hat.

Zuletzt war in dieser Woche der Fall zweier chinesischer Schwimmer bekannt geworden, die von der Chinesischen Anti-Doping-Agentur (CHINADA) nach Positivtests auf den Steroid-Doping-Klassiker Methandienon letztlich freigesprochen wurden, ohne dass die WADA interveniert hätte. Angeblich waren auch sie Opfer einer Kontamination geworden.

WADA-Fachmann hat Zweifel an Kontaminationsentschuldigung

Dabei liegen der ARD-Dopingredaktion Informationen vor, dass selbst ein Fachmann in der WADA große Zweifel an der von den Chinesen vorgebrachten Kontaminationsentschuldigung hatte. Beteiligt im neuesten Fall ist die Weltrekord-Staffelschwimmerin Tang Muhan, die in Tokio Gold auf der 4x200 Meter Freistil-Strecke gewann, im Jahr darauf aber zur Sorge ihrer Fans ein Jahr aus der Öffentlichkeit verschwunden war, ohne dass Gründe öffentlich gemacht wurden. An diesem Donnerstag in Paris ist sie wieder bei Olympia am Start.

Auch betroffen ist ihr Kollege He Junyi, mit dem sie zusammen im Pekinger Restaurant Blue Frog Burger gegessen haben will. Angeblich importiertes australisches Fleisch darin, so die These nach monatelangen Ermittlungen der Chinesen, soll mit der Dopingsubstanz verunreinigt gewesen sein. "Methandienon-Kontamination durch Fleisch macht nicht viel Sinn", sagt der niederländische Doping-Sachverständige Douwe de Boer der ARD, "es gibt andere Steroide, die viel billiger sind und in der Fleischproduktion verwendet werden. Außerdem ist gerade Australien ein Land, in dem Fleisch streng kontrolliert wird. Also, ich bin sehr überrascht, dass Sportler aus China nicht sanktioniert wurden, vor allem wegen eines Szenarios, das auf den ersten Blick keinen Sinn ergibt."

International ist die Entrüstung groß, weil der Verdacht besteht, chinesische Sportler würden von der WADA bevorzugt behandelt. In der Regel drängt die Agentur bei Methandienon-Fällen auf harte Bestrafung, selbst wenn Anzeichen einer Kontamination vorliegen.

Athletenvertreter: "Wütend über das aktuelle Vorgehen der WADA"

Als etwa in Paris die deutsche Weltklasse-Schwimmerin Angelina Köhler auf Platz vier landete, 21 Hundertstelsekunden hinter einer jener Chinesinnen, die positiv auf eine Dopingsubstanz getestet, aber zu Hause freigesprochen wurden, brach Köhler noch im Wasser in Tränen aus. "Das hat natürlich immer einen miesen Beigeschmack, solche Geschichten", sagte sie.

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"In einer regelrechten Salamitaktik kommen jeden Tag anscheinend neue Fälle oder neue mögliche Verdachtsfälle ans Licht. Und dieses Vorgehen macht uns natürlich bestürzt, aber auch wütend über das aktuelle Vorgehen der WADA", schimpft Kevin Götz, Athletenvertreter im Schwimmverband.

Die Athletenkommission der US-Olympiamannschaft veröffentlichte ein Statement, sie sei "erneut extrem verärgert und entmutigt" wegen Berichten "über weiteres Versagen im weltweiten Anti-Doping-System". In den USA haben sich parteiübergreifend Politiker zu Wort gemeldet, die darauf drängen, dass die USA ihre Subventionen für die WADA zurückhalten, bis die Agentur Reformen einleitet.

Wer sich die neuesten chinesischen Dopingfälle genauer ansieht, erkennt ein Muster: Die Chinesische Anti-Doping-Agentur CHINADA scheint regelmäßig zuverlässig hinter den Kulissen schwer beschäftigt mit der Entlastung chinesischer Sportler nach positiven Proben.

WADA hatte Hinweise auf Trimetazidin-Doping in China

So wurden im Jahr 2021 23 Schwimmer mit dem verbotenen Herzmittel Trimetazidin erwischt, die CHINADA ermittelte monatelang mit Hilfe staatlicher Geheimdienststellen. Und das Ergebnis wirkte wie ein Wunder: Angeblich wurden Rückstände des Mittels in einer Küche des Hotels gefunden, in dem sich die Schwimmer aufgehalten und gegessen hatten. Sogar im Abfluss und das in einer Zeit der Corona-Pandemie, in der in China täglich in Hotels eine besonders strenge Reinigungs- und Desinfektionshygiene herrschte. Trimetazidin-Rückstände müssten also demnach besonders reinigungsresistent sein. Eine Quelle wurde nicht gefunden, ein ernsthafter Beweis nicht vorgelegt. Aber die WADA akzeptierte das.

Dabei lagen ihrer Ermittlungsabteilung schon seit Jahren Erkenntnisse vor, die die Möglichkeit von Kleinstmengen-Doping mit Trimetazidin in China ausdrücklich bestätigten. Nach einer ARD-Doku 2017 hatten die Ermittler eine chinesische Kronzeugin in der Doku, die nach Deutschland geflohene Ärztin Xue Yinxian, intensiv befragt. Im Mai 2020 erklärte der Leiter der Abteilung, der frühere LKA-Polizist Günter Younger, seinem Vorstand in einem Sitzungsbericht: "Dr. Xue wurde als glaubwürdige Zeugin betrachtet, auch wenn sie nicht persönlich Zeugin des Dopings war." Und er ergänzte: "Einige der Vorwürfe bezogen sich auf angeblich nicht nachweisbare Mengen verbotener Substanzen, nämlich Trimetazidin, Stanozolol und Wachstumshormone."

Diese der WADA vorliegenden Informationen wurden von deren Ermittlungsabteilung oder der WADA-Führung öffentlich nie genannt. Im Gegenteil: Younger hat wiederholt Kritik zurückgewiesen, die WADA habe eine absichtliche Verwendung von Trimetazidin nicht ausreichend untersucht.

Auch 2023 gab es ein ähnliches Muster der Vorgehensweise der CHINADA in einem öffentlich bisher kaum wahrgenommenen Fall. Die chinesische Marathonläuferin Xin Zhang wurde - wie die beiden chinesischen Schwimmer, deren Fall jetzt publik wurde - positiv auf den Steroidklassiker Methandienon getestet. Sie hatte angeblich mit einer Partnerin trainiert, beide hätten gleiche Flaschen dabeigehabt, in denen sie jeweils ihre ähnlich aussehenden Pulver aufgelöst haben wollen. Dann will die positiv getestete Läuferin versehentlich aus der Flasche der Kollegin getrunken haben, deren Inhalt verbotenerweise das Dopingmittel enthielt.

Die Unabhängige Integritätseinheit des Leichtathletik-Verbandes AIU bat die CHINADA um Ermittlungsunterstützung. Die CHINADA holte Aussagen ein, die die mutmaßliche Doperin entlasten hätten können: Deren Lauf-Partnerin gestand angeblich den Kauf des Dopingmittels und soll sogar Screenshots mit Kaufbelegen für Dopingsubstanzen vorgelegt haben. Allerdings just keinen Beweis für den Erwerb von Methandienon. Die AIU glaubte die von der CHINADA überlieferte Geschichte nicht und sperrte die Chinesin für drei Jahre.

Schwimmerin lässt Fleischproben kaufen

Und nun der neueste bekannt gewordene Fall. Vom Anti-Doping-Labor in Peking wurden am 3. November 2022 die Proben mit den Nummern 6485062 und 6485069 positiv auf das Anabolikum Methandienon gemeldet. Sie wurden den chinesischen Top-Schwimmern Tang Muhan und Junyi He zugeordnet. He ist dabei besonderer Pechvogel und Glückspilz zugleich: Gleich zwei Mal binnen zwei Jahren positiv getestet, aber immer Opfer von Kontamination - sogar mit unterschiedlichen Dopingmitteln. He zählte schon zu den 23 positiv getesteten Trimetazidin-Schwimmern. Nach der Methandienon-Probe sei er nach ARD-Informationen sogar bereit gewesen, ohne weitere Anhörung eine Sperre zu akzeptieren.

Geheimsache Doping - "Die Akte China"

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Angeblich waren zu den Positivproben der beiden Schwimmer noch weitere positive Tests chinesischer Sportler aus anderen Sportarten auf das gleiche Anabolikum hinzugekommen. Und wieder rückte die CHINADA mit Hilfe geheimdienstlicher Stellen zur Untersuchung aus. Angeblich ermittelte sie, dass allein der Verzehr eines Burgers im Pekinger Restaurant Blue Frog ursächlich für die positiven Tests der Schwimmer sein konnte.

Im großen Stil wurden den Angaben der CHINADA zufolge mehrere Hundert Proben Fleisch auf Märkten und in Geschäften in einem Dutzend Städten zusammengekauft, unter anderem von Gesandten der betroffenen Olympia-Schwimmerin Tang Muhan. Die Untersuchung der Proben im Labor förderte tatsächlich angeblich sehr selten minimale Mengen Methandienon zutage - in Fleisch neuseeländischer und australischer Herkunft.

Dabei sind in den Ländern die Lebensmittelkontrollen sehr streng und Anwendungen von Steroidmastmitteln verboten. Außerdem stammen über 80 Prozent des chinesischen Importfleisches eigentlich aus ganz anderen Ländern, in denen das Steroidkontaminationsrisiko viel größer ist - aus Südamerika. Und: Weder in Neuseeland noch in Australien sind Methandienon-Doping-Fälle aufgetreten.

Ermittler finden kein verseuchtes Fleisch

Allerdings konnten die Ermittler ausgerechnet in dem Restaurant Blue Frog in Peking, in dem die Sportler gegessen haben wollen, auf der Suche nach verseuchtem Fleisch nicht fündig werden - angeblich, weil der Laden seine Burgerzutat nicht wie früher von einem australischen Importeur bezieht. Trotz aller offenkundigen Ungereimtheiten: Wieder akzeptierte die WADA die Unschuldstheorie und segnete den Freispruch der Athleten ab. Dabei hat, wie die ARD-Dopingredaktion inzwischen erfuhr, sogar ein Wissenschaftler mit WADA-Auftrag die Theorie der Fleisch-Kontamination mit der Doping-Substanz Methandienon nicht geglaubt.

Anti-Doping-Experten wie der Niederländer de Boer wundern sich, dass die WADA nicht dem üblichen Protokoll in Fällen von Kontaminationsverdacht gefolgt ist: "Mir ist keine Warnung der WADA bekannt, dass Methandienon in der Fleischproduktion missbraucht wird. Ich würde erwarten, dass die WADA eine Warnung ausspricht - vorausgesetzt, dass die Chinesen sehr zuverlässige Beweise haben."

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Es gibt weitere Eigenheiten des Falles, die nur schwer mit dem WADA-Protokoll in Einklang zu bringen sind. So seien die Schwimmer zwar beide bis zum Freispruch provisorisch gesperrt worden - anders als die 23-Trimetazidin-Schwimmer - doch wurden vermeintliche Suspendierungen entgegen der Regeln nie öffentlich gemacht.

So findet sich auf der chinesischen Online-Nachrichtenseite "163" ein Artikel, der das Verschwinden der Olympiasiegerin Tang Muhan aus dem öffentlichen Raum thematisiert. "Nach den Schwimm-Weltmeisterschaften 2022 in Budapest trat Tang Muhan bis heute nie mehr auf", hieß es in dem Artikel Mitte August 2023, "und Tang Muhan hat in den letzten 10 Monaten aufgehört, die sozialen Medien zu aktualisieren. Sie ist 'verschwunden'."

Tang Muhan startet in 4x200-m-Freistilstaffel

Möglicherweise, so spekuliert der Artikel, seien bei ihr "Dopingprobleme festgestellt worden und sie wurde gesperrt". Tang Muhan dürfte sich mutmaßlich in dieser Zeit hinter den Kulissen auf Olympia in Paris vorbereitet haben. Dort wird sie am Donnerstag mit ihren Teamkameradinnen der 4x200-m-Freistilstaffel versuchen, den Olympiasieg von Tokio 2021 zu wiederholen.

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau Olympia 2024 | 31.07.2024 | 07:35 Uhr