Untersuchungsbericht zur "Akte China" Neue Hinweise auf Vertuschung - Druck auf China und WADA wächst
Seit den Enthüllungen der ARD-Dopingredaktion über einen Dopingverdachtsfall mit 23 chinesischen Spitzenschwimmern steht die Welt-Anti-Doping-Agentur wegen ihres nachlässigen Umgangs mit der Causa in der Kritik. Kurz vor der Veröffentlichung eines Untersuchungsberichts liegen der ARD neue, belastende Informationen vor.
Neue Hinweise auf ein Vertuschungsszenario im Verdachtsfall von Massendoping unter 23 Spitzenschwimmern vor den Olympischen Spielen 2021 in Tokio erhöhen den Druck auf China und die Welt-Anti-Doping-Agentur WADA.
Kurz vor der Veröffentlichung eines von der WADA in Auftrag gegebenen Untersuchungsberichts, der nach Informationen der ARD-Dopingredaktion Ende der Woche erscheinen soll, lassen neue Verdachtsmomente das Vorgehen der chinesischen Behörden und den Umgang der WADA mit der Causa mehr denn je in einem schlechten Licht erscheinen.
Die ARD-Dopingredaktion erhielt nach der Veröffentlichung der Doku "Geheimsache Doping: Die Akte China" von einer Quelle mit Kontakt in die chinesische Schwimmszene Informationen, die nahelegen, dass zumindest einige der betroffenen Athleten Anfang 2021 durch die chinesische Anti-Doping-Agentur CHINADA nicht über ihre positiven Tests informiert worden waren. Dies wäre ein eklatanter Verstoß gegen die Anti-Doping-Richtlinien.
Schwimmer Zhang Ruixuan: "Ich bin positiv. Warum habe ich das nicht gewusst?"
Der ARD liegt der Screenshot eines Social-Media-Posts eines der 23 Schwimmer vor. Zhang Ruixuan schrieb in einer Antwort auf einen anderen Beitrag über den Vorfall: "Ich bin positiv. Warum wusste ich nichts davon?“ Diese Nachricht, die er über sein privates Konto auf der chinesischen Plattform Weibo geschrieben hat, ist inzwischen gelöscht.
Die Regeln besagen, dass die für das Ergebnismanagement zuständige Stelle, in diesem Fall die CHINADA, den betreffenden Athleten „unverzüglich benachrichtigen" muss. Darüber hinaus sollte jeder Spielraum für eine mildere Behandlung eines Falles nur nach Vorlage von Beweisen "durch den Athleten" gegeben sein.
Eine Untersuchung des chinesischen Ministeriums für Öffentliche Sicherheit, eine Behörde mit Geheimdienstbefugnissen, lieferte hier die Hinweise, die als entlastend gewertet wurden. Die CHINADA verarbeitete sie 2021 in einem Bericht, den die WADA anstandslos akzeptierte. Ob die WADA den Aspekt beleuchtet hat, dass möglicherweise Athleten nicht über positive Dopingproben in Kenntnis gesetzt oder nicht die Gelegenheit zur Stellungnahme erhielten, ist unbekannt. Die WADA beantwortete eine ARD-Anfrage nicht und verwies auf den bevorstehenden Bericht des von ihr ernannten "unabhängigen Staatsanwalts" Eric Cottier.
Sportrechtler Summerer: Auf jeden Fall ein Regelverstoß"
Der ARD liegen Informationen vor, wonach mindestens zwei weitere der 23 Schwimmer nicht über ihre positiven Tests benachrichtigt worden sind. Der Bericht der CHINADA, der im Juni 2021 an die WADA ging, enthielt keinen Hinweis auf eine Benachrichtigung der Athleten. Darin heißt es lediglich, dass einige Athleten - aus einer Gruppe, zu dem sowohl die positiv getesteten als auch die nicht positiv getesteten Athleten gehörten - allgemein zu dem Vorfall befragt wurden. Ihnen wurde jedoch offenbar nicht mitgeteilt, ob sie zu den positiv getesteten Athleten gehörten. Gleichwohl seien die Athleten unter Androhung von rechtlichen Konsequenzen aufgefordert worden, über den Sachverhalt Stillschweigen zu bewahren.
"Wenn es, wie es hier der Fall ist, einen Dopingbefund gibt, dann muss der Sportler unverzüglich informiert werden. Es liegt auf jeden Fall ein Regelverstoß vor", sagt Thomas Summerer, Präsident der Deutschen Vereinigung für Sportrecht, der ARD-Dopingredaktion: "Auch der Schwimmverband muss informiert werden, und der Athlet muss Stellung nehmen können."
Angeblich nicht alle Sportler im selben Hotel
Die Informationen der ARD stammen von chinesischen Quellen, die angeblich direkten Zugang zu den beteiligten Schwimmern haben. Zweifelsfrei verifizieren ließ sich dies nicht. Eine Quelle verwies auf das enorm hohe Risiko für Whistleblower in China und lehnte es aus Sicherheitsbedenken ab, der ARD einen direkten Kontakt zu den Schwimmern und weiteren chinesischen Hinweisgebern zu vermitteln.
Diese Quelle gibt zudem einen wichtigen Hinweis im Hinblick auf den Aufenthaltsort der Athleten zum Zeitpunkt der Dopingkontrollen in der Stadt Shijiazhuang, der einer entscheidenden Darstellung im chinesischen Untersuchungsbericht massiv widerspricht. Sie behauptet, dass Anfang 2021 nicht alle 23 Athleten im Huayang Holiday Hotel untergebracht waren, in dem die angebliche Kontamination des Essens mit dem später festgestellten Dopingmittel Trimetazidin stattgefunden haben soll. Belegt wird dies mit Chats aus der chinesischen Schwimmsport-Szene, die der ARD-Dopingredaktion vorliegen.
Dies würde bedeuten, dass diese Athleten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Lebensmittel aus der Küche und dem Restaurant des Hotels zu sich genommen haben können. Damit würde die Argumentation der chinesischen Behörden, die die positiven Tests aller 23 Schwimmer ausschließlich mit der Verunreinigung des Essens im angegebenen Athletenhotels begründeten, in sich zusammenbrechen.
Gemeinsame Trainingsmaßnahme?
Die Quelle gibt zudem an, dass zumindest große Teile der chinesischen Schwimm-Nationalmannschaft in den Wochen vor den positiven Tests immer wieder für längere Zeit in Peking zusammengezogen worden waren und gemeinsam im sogenannten Nationalen Sportkomplex der Hauptstadt trainierten. Im CHINADA-Bericht hatte es hingegen geheißen, die Athleten hätten sich alle in den Wochen vor dem Wettkampf in ihren Provinzen aufgehalten. Ein systematisches Doping der Nationalmannschaft wurde so von der CHINADA als unmöglich angesehen.
In der Tat, wie Social-Media-Posts zeigen, hielten sich manche Sportler in diesem Zeitraum auch außerhalb Pekings auf. Allerdings liegen der ARD-Dopingredaktion auch Screenshots aus Chat-Verläufen chinesischer Social-Media-Plattformen vor, die die Abläufe ganz anders darstellen. Demnach seien zumindest Teile der Nationalmannschaft im Sport-Komplex der Hauptstadt über lange Zeit regelrecht kaserniert worden. Die Athleten hätten wegen der Covid-Pandemie das Gelände zeitweise nicht verlassen dürfen. Diese Inhalte stehen im klaren Widerspruch zu den Behauptungen im CHINADA-Bericht.
Summerer fordert neue Untersuchung
Würde es stimmen, dass die Schwimmer sich nicht wie dort angegeben vor dem Wettkampf an unterschiedlichen Orten aufgehalten hätten, wäre es ein weiteres starkes Indiz für eine chinesische Vertuschungsabsicht. Dass die Schwimmer zuvor ausschließlich in ihren Provinzen trainiert hätten, wurde von CHINADA-Seite als Schlüsselargument gegen absichtliches, systematisches Doping angeführt. Diese Argumentation hatte auch die WADA nach der Veröffentlichung der Recherchen von ARD und New York Times am 20. April immer wieder genannt.
Die ARD-Dopingredaktion konnte aufgrund der Einschränkungen in China nicht alle diese Informationen verifizieren, freie Recherche ist dort kaum möglich. Die WADA antwortete nicht auf eine Anfrage der ARD, ob ihr ähnliche Verdachtsmomente vorliegen oder ob sie in dem Fall, dass sie Kenntnis über solche Informationen erhielte, eine neue Untersuchung veranlassen würde.
Sportrechtler Summerer hält eine Neubewertung des Falles durch die WADA für überfällig. "Wenn wie hier ein neuer Sachverhalt vorliegt, dann muss neu ermittelt werden. Das heißt, die WADA müsste die Behörde in China anweisen, die Sache neu aufzurollen", sagte Summerer. Er betont, dass auch eine neue, unabhängige Untersuchung des Falles rechtlich möglich sei.
Cottier-Bericht vor Veröffentlichung in der Kritik
Die Enthüllungen, dass 23 chinesische Schwimmer im Vorfeld der Olympischen Spiele in Tokio positiv getestet wurden, aber straffrei ausgingen, hatten weltweit für Empörung gesorgt. Voraussichtlich elf der betreffenden Schwimmer sollen in gut einem Monat bei den Olympischen Spielen in Paris wieder an den Start gehen.
Die WADA, die nach der Veröffentlichung von ARD und New York Times zunehmend unter Druck geraten war, beauftragte den Schweizer Juristen Eric Cottier als "unabhängigen Staatsanwalt" mit einer Überprüfung des Umgangs mit der Affäre. Doch sowohl der begrenzte Umfang des Untersuchungsauftrags als auch Cottiers gute Kontakte zu hochrangingen Sportfunktionären gaben direkt Anlass zu weiterer Kritik.