Recherche der ARD-Dopingredaktion "Die Akte China" - Fragen und Antworten
Fragen und Antworten zur Recherche von ARD-Dopingredaktion und "New York Times".
Was ist der Kern der Recherche?
Ein 31-seitiger Untersuchungsbericht von Chinas Anti-Doping-Agentur CHINADA, zugespielt im September 2023, verifiziert von ARD-Dopingredaktion und "New York Times" über mehrere Quellen. In dem Bericht wurden Vorgänge rund um einen nationalen Schwimm-Wettkampf in Shijiazhuang im Januar 2021 untersucht. Der Report legt den Verdacht der Vertuschung von positiven Dopingproben bei 23 Athletinnen und Athleten nahe. Laut Report wurden die Untersuchungen vom chinesischen Ministerium für Öffentliche Sicherheit durchgeführt, einer Behörde mit Geheimdienstbefugnissen.
Was geht aus dem Untersuchungsbericht hervor?
Bei einem nationalen Wettkampf in Shijiazhuang im Januar 2021 wurden 23 der besten chinesischen Schwimmerinnen und Schwimmer positiv getestet. Darunter waren laut Bericht unter anderem die spätere Doppel-Olympiasiegerin Zhang Yufei und Qin Haiyang, der Weltschwimmer des Jahres 2023, aber auch insgesamt drei damals minderjährige Athleten.
Unter Verdacht: Zhang Yufei
13 der 23 positiv Getesteten starteten im Sommer 2021 bei den Olympischen Spielen in Tokio und gewannen Medaillen in fünf Wettbewerben (dreimal Gold, zweimal Silber).
Name | Erfolge | |
---|---|---|
Zhang Yufei | Doppel-Olympiasiegerin Tokio | |
Yang Junxuan | Olympiasiegerin Tokio | |
Wang Shun | Olympiasieger Tokio | |
Yan Zibei | Olympia-Zweiter Tokio | |
Qin Haiyang | Vierfacher Weltmeister | |
Wang Yichun | Weltmeisterin | |
Yu Yiting | Weltmeisterin | |
Wang Jianjiahe | Weltmeister 2018 | |
Xuwei Peng | WM-Dritte | |
Ge Chutong | WM-Medaillengewinnerin | |
Sun Jiajun | WM-Medaillengewinner | |
Yu Hexin | Asienmeister 2014 und 2018 | |
Fei Liwei | Asienmeisterin | |
He Junyi | Asienmeister | |
Chen Juner | Asienmeister | |
Zhang Ziyang | Asienmeister | |
Cheng Long ( | Olympiateilnehmer Tokio | |
Wang Xueer | Olympiateilnehmer Tokio | |
Lin Tao | Nationalschwimmer | |
Shen Jiahao | Nationalschwimmer | |
Wang Yutian | Nationalschwimmer | |
Wang Zhou | Nationalschwimmer | |
Zhang Ruixuan | Nationalschwimmer |
Welche Substanz wurde gefunden?
Bei allen wurde dieselbe Substanz gefunden: Trimetazidin, ein im Sport verbotenes Herzmittel. Es wurde in den 1960er Jahren in Frankreich erfunden und steht seit 2014 auf der Verbotsliste der Welt-Anti-Doing-Agentur WADA. In Deutschland wird es nicht vertrieben wegen möglicher Nebenwirkungen und nicht belegter Wirkung bei herzkranken Patienten. Trimetazidin kann die Eigenschaften von Energieträgern im Körper und damit auch die Leistungsfähigkeit beeinflussen. Dopingjäger finden Trimetazidin vorrangig in Ausdauer- und Kraftsportarten.
Einen berühmten Trimetazidin-Fall produzierte beispielsweise Kamila Walijewa (2022). Das russische Eiskunstlauf-Wunderkind erhielt nach einem erfolgreichen Einspruch der WADA die Regelsperre von vier Jahren. Ihre Rechtfertigungsversuche, sie habe das Trimetazidin über einen unabsichtlichen Kontakt mit einem Herzmedikament ihres Großvaters zu sich genommen, verfingen nicht. Ein weiterer Trimetazidin-Fall war der von Sun Yang, des erfolgreichsten und berühmtesten chinesischen Schwimmers. Er wurde dafür 2014 gesperrt.
Welche Erklärung gaben die Chinesen für die positiven Tests von 2021 ab?
Nach chinesischen Angaben sollen die positiven Fälle durch Kontamination zustande gekommen sein. In einer Küche des Athletenhotels in Shijiazhuang sei für sämtliche betroffenen Athleten Essen gekocht worden. Aus dem Bericht geht hervor, dass mehr als zwei Monate später Ermittler die Küche inspiziert und dabei Spuren von Trimetazidin im Dunstabzug, an Gewürzcontainern sowie im Abfluss gefunden hätten. Die Untersuchungen hätten sich coronabedingt verzögert.
Einen Beweis für ihre Behauptungen legen die Chinesen in dem Dokument nicht vor. Sie erklären auch nicht, welche Person angeblich in der Hotelküche das verschreibungspflichtige Medikament Trimetazidin bei sich geführt haben soll. Sie gaben trotzdem an, dass dies das wahrscheinlichste Szenario sei: Vom Gewürzcontainer sei das Mittel womöglich in eine Pfanne oder einen Kochtopf gelangt – und von dort in die Mahlzeiten der Athleten.
So sei das Herzmedikament ohne Wissen der Schwimmer in deren Körper gelangt. Die Athleten, so die Forderung der Chinesen, seien deshalb nicht zu belangen.
Wie reagierte die Welt-Anti-Doping-Agentur 2021?
Die chinesische Anti-Doping Agentur CHINADA meldete die Fälle damals zwar offiziell im nicht-öffentlichen ADAMS-Meldesystem der WADA, informierte die oberste Anti-Doping-Einrichtung angeblich sogar in einem Brief. Die Sportler wurden allerdings nicht wie in den Verfahrensrichtlinien bei so genannten Anti-Doping-Regelverstößen (ADRV) festgelegt vorläufig suspendiert, die Fälle nicht publiziert und die betreffenden Wettkampfergebnisse nicht aberkannt.
Trotz der offensichtlichen Regelverstöße der CHINADA veranlasste die WADA nach Erhalt des chinesischen Untersuchungsberichtes keine weiteren Schritte. Zudem gab es offensichtlich keine unabhängige Untersuchung der Vorgänge in China seitens der WADA. Die oberste Anti-Doping-Einrichtung folgte schließlich der Entscheidung der Chinesen, die Fälle der positiv getesteten Athleten auf sich beruhen zu lassen und legte keinen Einspruch ein. Die Vorgänge in China und die Reaktion der WADA wurden nie öffentlich.
Wie reagieren Sport- und Anti-Doping-Organisationen auf die Recherchen der ARD-Dopingredaktion und der "New York Times"?
Die WADA teilte auf ARD-Anfrage mit, sie habe auf Basis der Analysedaten "keine Grundlage" gesehen, die "Erklärungen der Kontamination anzufechten". Sie stützt das unter anderem auf "niedrige Konzentrationen" und "schwankende Werte" in den Dopingproben. Die WADA sagt, sie habe sich an ihr Regelwerk gehalten.
Die CHINADA erklärte, dass "keine Anti-Doping-Verstöße" vorgelegen hätten und somit kein Handlungsbedarf bestanden habe. Der Welt-Schwimm-Verband teilte mit, er sei "zur Verschwiegenheit verpflichtet". Die Vorgänge seien "sorgfältig und professionell" geprüft worden, daher habe man nichts weiter unternehmen müssen.
Die WADA ging nicht auf die Frage ein, ob das Szenario in der Hotelküche realistisch war oder nicht. Klar wurde aus dem Statement, dass die WADA in China keine unabhängige Untersuchung vorgenommen und nur auf Grundlage des CHINADA-Reports entschieden hat, keine Ermittlungen vorzunehmen.
Was sagen die Experten in "Die Akte China"?
Travis Tygart, der Chef der US-Anti-Doping-Agentur USADA, kritisiert die WADA scharf. "Im WADA-Code ist nirgendwo von Massenkontamination die Rede und schon gar nicht davon, dass so was nicht verfolgt wird", sagte Tygart: "Wenn das wahr ist, riecht das nach Vertuschung auf der höchsten Ebene der Welt-Anti-Doping-Agentur." Tygart belastet die WADA zusätzlich schwer mit der Angabe, man habe die Dachorganisation zwischenzeitlich über Gerüchte zu diesem Fall befragt. Antwort der WADA: Es habe "keinen Anlass für Ermittlungen" gegeben.
Der ehemalige WADA-Generaldirektor David Howman erklärte: "Ich finde, die Öffentlichkeit hat das Recht, sich in solchen Fällen eine Meinung zu bilden. Sie ist die maßgebliche Instanz, die prüft, ob unser aller Handeln regelbasiert ist. Es braucht einfach Vertrauen. Aber wenn du das verlierst, geht es schnell abwärts mit der Reputation deiner Organisation. Wenn das so ist, wäre es eine Tragödie für die WADA."
Der forensische Toxikologe und Pharmakologe Fritz Sörgel hat im Auftrag der ARD-Dopingredaktion die Angaben aus dem chinesischen Bericht in einem umfassenden Experiment überprüft. Der Bericht lese sich zwar auf den ersten Blick sehr gut und schlüssig, aber dennoch bewertet er die Erklärungen als unglaubwürdig.
"Es ist einfach extrem unwahrscheinlich, dass das in dieser Form stattgefunden haben soll", sagte Sörgel: "Die Geschichte ist sehr ähnlich zu dem, was wir seit Jahren beobachten: Überführte Doper versuchen Ausreden zu finden, wie Dopingmittel eigenartigerweise in ihre Körper gekommen sind."
Der renommierte Münchner Sportrechtler Thomas Summerer, der für die Produktion alle vorliegenden Dokumente geprüft hat, geht von gleich mehreren Versäumnissen der Anti-Doping-Vertreter aus. "Es lag auf der Hand, dass ein Anti-Doping-Verstoß vorliegt, und so hätte man diesen auch behandeln müssen seitens der chinesischen Anti-Doping-Agentur. Man hätte sofort eine vorläufige Sperre verhängen und sämtliche Wettkampfergebnisse aberkennen müssen. Man hätte auch die Namen der Athleten und die Substanz, um die es geht, offenbaren müssen", sagte Summerer: "Die WADA als höchstes Kontrollgremium im Weltsport hätte intervenieren müssen, damit mehr Licht ins Dunkel kommt." Es verwundere ihn, dass "die WADA hier tatenlos geblieben ist".