Sprint No Limits - Lückenkemper will ins WM-Finale stürmen
2022 war das Jahr von Gina Lückenkemper. Doppel-Europameisterin und WM-Staffel-Dritte, eine deutsche Erfolgsstory auch made in USA. Bei den Welt-Titelkämpfen in Budapest will die 26-Jährige nun erneut für Furore sorgen und ins Einzelfinale stürmen.
Sie stürzte ins Ziel, verletzte sich mit den eigenen Spikes am Knie, musste mit acht Stichen genäht werden - es waren spektakuläre Bilder, als Gina Lückenkemper im vergangenen Jahr im hauchdünnen Finale von München zum Sieg sprintete. EM-Gold, der größte Triumph ihrer Karriere. Und der finale Beweis, dass sie sich quälen kann - im Zweifel bis aufs Blut.
US-Sprintstar Lyles: Sie inspiriert mich
"Ich wusste, dass sie sich nicht bei 100 Prozent fühlte, aber trotzdem alles geben wollte", sagte 100-m-Weltmeister Noah Lyles bei der WM in Budapest. Der US-Sprintstar saß seinerzeit im Publikum, als die 26-Jährige zum Triumph stürmte: "Wie unser Trainer immer sagt: Bist Du am Ende des Tages bereit, alles zu opfern, um zu gewinnen? Zu sehen, wie sie alles gibt, sich das Bein aufschürft und gewinnt, ist inspirierend für mich."
Training mit den Stars der Szene in Florida
Ein höchstes Lob aus berufenem Mund. Der Titelverteidiger über 200 m gehört zur Trainingsgruppe der schnellen Deutschen in Clermont/Florida, wo sie seit 2020 bei Starcoach Lance Brauman trainiert - wenn auch zu Beginn wegen der Corona-Pandemie mit Hindernissen. 400-m-Olympiasiegerin Shaunea Miller-Uibo und 400-m-Weltrekordhalter Wayde van Niekerk zählen ebenfalls zu ihren Trainingskollegen. Für sie ein Ritterschlag.
Lückenkemper: "Unfassbar viel gelernt"
"Das war damals so und ist es auch heute noch", erzählte Lückenkemper im ARD-Interview. "Dass ich die Möglichkeit habe, mit einem Trainer wie Lance zusammenzuarbeiten, ist alles andere als selbstverständlich. Er ist einer der erfolgreichsten Sprinttrainer weltweit. Und ich darf mit Weltmeistern, Olympiasiegern und Weltrekordlern in meiner Sportart trainieren. Ich habe schon unfassbar viel gelernt."
Zum Beispiel, "was es insgesamt bedeutet, Profisportler zu sein. Ich habe noch einmal ein ganz anderes Verständnis für meinen Sport und mein Tun bekommen, seitdem ich dort drüben trainiere." Auch ihre technische Auffassung für den Sprint sei unter Brauman "extrem größer" geworden, erzählte Lückenkemper. An die harten Einheiten, zu Anfang ein Thema, hat sie sich längst gewöhnt.
Rebekka Haase: "Es gibt keine Grenze"
Mehrere Wochen im Jahr verbringt die Athletin vom SCC Berlin in Florida, während der Freiluft-Saison in Europa hält sie über WhatsApp und Videos Kontakt zu ihrem Coach. Unterstützung erhält sie bei Bedarf auch durch Freundin und Staffelkollegin Rebekka Haase sowie deren Langzeit-Coach Jörg Möckel, der auch Sprint-Bundestrainer im Deutschen Leichtathletik-Verband ist.
Beide waren ebenfalls schon in Clermont zum Austausch und Mittrainieren - und sind begeistert. "Es ist faszinierend, mit welchem Mindset die ganze Gruppe unterwegs ist", schwärmte Haase. "Es gibt keine Grenzen. Es war unglaublich, diese 'Alles ist möglich'-Einstellung jeden Tag im Training zu erleben.
Von der Trainingsgruppe in den USA gefeiert
Europameisterin im Einzel und mit dem DLV-Quartett, Staffel-WM-Dritte, deutsche Meisterin in 10,99 Sekunden: Mit ihrem Erfolgsjahr 2022 hat sich Lückenkemper nicht nur in Deutschland, sondern auch im US-amerikanischen Sonnenstaat größten Respekt verdient. Als sie vergangenen Herbst zurück nach Clermont kam, begrüßten sie ihre Trainingskollegen mit "The European Champ is here!" Lyles bewundert sie ohnehin für ihren Mut: "Von Deutschland in die USA zu gehen, ist kein einfacher Schritt." Sie sei bescheiden, sehr lernwillig und bereit zuzuhören. "Wie Trainer B sagte: Das ist alles, was man von einem Sportler verlangen kann."
Auch Brauman selbst hält große Stücke auf Lückenkemper: "Ich denke, dass sie unter 10,90 Sekunden laufen kann." Selbst den deutschen Rekord von Marlies Göhr von 10,81 Sekunden (1983) hält er für möglich. The Sky is the Limit im vielbeschworenen Mindset der USA.
Elf Sekunden sollen in Budapest fallen
Dennoch heißt es auch: sich realistische Ziele stecken. Eins nach dem anderen. Zunächst einmal will Lückenkemper künftig "konstant unter elf Sekunden laufen". 10,98 Sekunden hat sie im Juni in Dessau schon geschafft - wenn auch mit zuviel Rückenwind. Aber die Voraussetzungen stimmen. "Ich gehe fest davon aus, dass die elf Sekunden in Budapest fallen", sagte Lückenkemper der ARD. "Ich bin in der besten Form meiner bisherigen Karriere."
Die soll sie in erster Linie ins Finale am Montagabend (21.08.2023, 21.50 Uhr) tragen. Zeit hin oder her. 2017, 2019 und 2022, als sie den Endlauf in Eugene um zwölf Hundertstel verpasste, war für sie als Solistin jeweils im Halbfinale Endstation. Der Stachel sitzt tief.
WM-Finale als Solistin das große Ziel
"Ich habe die Nase gestrichen voll. Ich möchte in so einem WM-Finale stehen", sagte Deutschlands Sportlerin des Jahres. "Ich bin so konstant mit meinen guten Zeiten unterwegs. Fast schon erschreckend und ein bisschen gruselig. Aber halt auch irgendwo total geil." Bei ihrem Einzug ins Halbfinale am Montag (21.08.2023, 20.35 Uhr) in 10,21 Sekunden war allerdings noch viel Luft nach oben. Zuletzt hatte vor 26 Jahren in Melanie Paschke (Sechste 1997 in Athen) eine deutsche Sprinterin in einem WM-Finale über die 100 m gestanden.
Mein großes Ziel ist das 100-m-Einzelfinale. Das wird alles andere als eine leichte Aufgabe. Aber wenn es leicht wäre, dann würde es auch jeder machen.
Natürlich, die Konkurrenz um die starken Jamaikanerinnen mit Titelverteidigerin Shelly-Ann Fraser-Pryce oder die US-Sprinterinnen ist enorm. Allein acht Frauen in Budapest sind schon 10,90 Sekunden oder schneller gerannt. "Die sind krasser geworden. Ich bin es aber auch", unterstrich Lückenkemper, deren Bestzeit seit der WM in London vor sechs Jahren bei 10,95 Sekunden steht.
Beflügelt und locker nach den Erfolgen 2022
Mit ihrer Saison-Bestleistung von 11,00 Sekunden ist sie die Nummer 16 der Meldeliste. Doch noch nie war sie so konstant schnell unterwegs wie in in den vergangenen Monaten. "Das letzte Jahr hat mich noch einmal beflügelt und eine gewisse Lockerheit dazugegeben", so die DLV-Teamkapitänin.
Wie auch nicht. "Ich werde mich immer an diesen Moment erinnern, selbst wenn sie Weltmeisterin würde", blickte Lyles, der in Budapest über die 100 und die 200 m antritt, auf Lückenkempers emotionalen Goldlauf von München zurück. Das sei auch ein großer Augenblick für Deutschland gewesen.
Narbe als bleibende Erinnerung
Der Coup hat so manche Spur hinterlassen. Und ein Andenken an die Heim-EM wird Lückenkemper immer mit sich tragen: die Narbe am linken Knie. "Ich sehe sie jeden Tag. So klein ist sie ja nicht und dann auch noch an einer prominenten Stelle. Aber ich bin nicht mit ihr auf Kriegsfuß", erklärte die deutsche Top-Sprinterin. Sie sei eher eine Erinnerung an "einen der schönsten Abende, die ich je erleben durfte". Und ein Beweis für ihren Biss und eisernen Willen, der sie auch in Ungarn weit bringen soll.