Zwischen Euphorie und Druck Türkei-Kapitän Calhanoglu: "Für uns ist alles möglich"
Die Türkei ist erwartungsgemäß ins EM-Achtelfinale eingezogen - getragen von ihren genauso zahlreichen wie lautstarken Fans. Doch die große Unterstützung erzeugt beim Team von Trainer Vincenzo Montella auch großen Druck, unter dem es zusammenbrechen kann.
Hölle und Himmel trennten genau zwölf Minuten. Als Jan Kuchta zum vermeintlichen 2:1 für die Tschechen traf, schien der Traum von der erfolgreichen EM dahin zu sein. Das Entsetzen der gut 30.000 türkischen Fans im Volksparkstadion war greifbar. Aber der in vielen anderen Situationen überfordert wirkende rumänische Schiedsrichter Istvan Kovacs hatte bereits kurz vor dem Abschluss wegen eines Fouls des Tschechen abgepfiffen.
Und eben jene zwölf Minuten später lagen sich alle jubelnd in den Armen. Auf den Rängen genauso wie auf dem Platz. Das 2:1 von Cenk Tosun in der Nachspielzeit zählte - die letzten Zweifel am Einzug ins Achtelfinale waren ausgeräumt.
Von einem "unbeschreiblichen Glücksgefühl" sprach der Torschütze. Und Kapitän Hakan Calhanoglu betonte: "Wir genießen den Moment. Bei diesem Turnier ist für uns alles möglich." Mit den Fans, denn die sind laut des Spielmachers von Inter Mailand "die besten Fans bei der EM".
Türkische Fans schweigen nur einmal
Wie bei den Spielen zuvor in Dortmund hatten die Fans auch in Hamburg einen beeindruckenden Support gezeigt. Außerhalb des Stadions: Gleich mehrere Fanmärsche zogen Richtung Spielstätte und zum Fanfest. Und im Stadion: Sie pfiffen die zahlenmäßig deutlich unterlegenen tschechischen Anhänger bei jedem noch so kleinen Unterstützungsversuch gnadenlos nieder. Einzig bei der Nationalhymne des Gegners gaben sie Ruhe.
Jungstar Arda Güler gegen Tschechien wieder kein Faktor
Doch der Funke sprang wie schon in den Spielen zuvor nicht so recht über auf die Mannschaft auf dem Feld. Besonders der erst 19-jährige Arda Güler von Real Madrid, auf dessen schmale Schultern viele Fans riesige Erwartungen geladen haben, wirkt eher gehemmt. In Hamburg klappte wenig bis gar nichts. Schüsse wurden geblockt, besser postierte Nebenleute übersah er. Tiefpunkt: Ein Beinschuss, den ihm Torhüter Jindrich Stanek bei einem Pressingversuch verpasste.
Fragen zu seiner Leistung im Volksparkstadion wollte der Teenager aus Ankara dann auch nicht beantworten. "Thank you, thank you", sagte er nur und eilte durch die Mixed Zone.
Schiedsrichter Kovacs misst mit zweierlei Maß
Tschechien war zu Beginn die bessere Mannschaft auf dem Platz gewesen. Die Gelb-Rote Karte für Antonin Barak ließ die Kraftverhältnisse dann zu türkischen Gunsten kippen. Aber Arda Güler und Co. entfachten auch in der Folge kaum einmal Torgefahr. Der dezimierte Gegner hatte in der ersten Hälfte sechs Schüsse, die auch wirklich aufs Tor gingen. Die Türken gerade einmal drei.
Und die Türkei hatte Glück, dass Kenan Yildiz von Juventus Turin, der zweite sehr beliebte Youngster, nicht selbst mit Gelb-Rot vom Platz musste. Es war schlicht ein Messen mit zweierlei Maß, dass Schiedsrichter Kovacs zwar Barak nach zwei gelbwürdigen Fouls vom Platz schickte (20.), den 19-jährigen gebürtigen Regensburger, der eine Minute zuvor verwarnt worden war, nach einem Ellenbogentreffer gegen Vladimir Coufal aber weiterspielen durfte (38.).
Calhanoglu sieht sein Tor im Volkspark voraus
Und war das für die Tschechen nicht schon bitter genug, kassierten sie sieben Minuten nach der Halbzeit das 0:1 - nachdem sich ihr Torhüter unmittelbar zuvor verletzt hatte. Stanek hatte zunächst bärenstark gegen Yildiz pariert, fiel dann aber so unglücklich auf die rechte Seite, dass er seinen rechten Arm nicht mehr bewegen konnte. Calhanoglu setzte nach und jagte den Ball mit dem rechten Außenrist sehenswert in die Maschen. Der gehandicapte Keeper, der noch mit der Grätsche zu retten versuchte, war chancenlos.
Hakan Çalhanoğlu trifft zum 1:0
Calhanoglu berichtete hinterher, er habe seinen Treffer in der alten Heimat - er spielte in der Saison 2013/2014 für den HSV - vorhergesehen: "Wir haben noch vor dem Spiel darüber gesprochen. Ich hatte es im Gefühl, dass ich hier treffen würde. Das Tor ist auf jeden Fall besonders für mich."
Weder Fans noch Führung geben Sicherheit
Sicherheit gab die Führung allerdings noch immer nicht. Und je stärker die Tschechen nun wurden, um drohende Aus abzuwenden, desto ruhiger wurden auch die Fans. Das 1:1 von Tomas Soucek war ein Schock. Die Zweifel der Fans schienen auch die Spieler zu erfassen. Das vermeintliche 2:1 (82.) hätte die Türken angesichts von Georgiens Führung gegen Portugal zumindest in der Livetabelle auf den letzten Platz der Gruppe rutschen lassen.
Natürlich spürt man auch den Druck, wenn man darüber nachdenkt, dass uns 80 Millionen Türken auch an den Fernsehern verfolgen.
Salih Özcan, der zur Pause gelbbelastet ausgewechselt worden war, hatte als einer der wenigen klaren Kopf bewahrt. "Ich hatte sofort mitbekommen, dass der Schiedsrichter auf Foul entschieden hatte", sagte der Mittelfeldmann von Borussia Dortmund. Und der Rest habe es dann auch schnell auf den Tablets an der Bank in der Wiederholung gesehen.
Und wenig später brach sich ja dann auch schon der Jubel Bahn. "Wir genießen in der Mannschaft die Unterstützung der Fans einfach und sind sehr glücklich darüber", betonte Özcan. Und sein Teamkollege Ferdi Kadioglu freute sich: "Es fühlte sich wie ein Heimspiel an."
Calhanoglu verpasst das Achtelfinale gesperrt
Ein bisschen nachdenklicher gab sich hingegen Calhanoglu: "Natürlich spürt man auch den Druck, wenn man darüber nachdenkt, dass uns 80 Millionen Türken auch an den Fernsehern verfolgen." Aber es gelte, die Begeisterung zu nutzen: "Unsere Fans sind unbeschreiblich, sie sind einfach überall."
Sicher auch in Leipzig, wo am kommenden Dienstag (21 Uhr) das Achtelfinale gegen Österreich ausgetragen wird. Die Türken haben eine Rechnung offen: Vor drei Monaten wurden sie in einem Testspiel vernichtend mit 1:6 geschlagen.
"Das haben wir natürlich nicht vergessen", betonte Calhanoglu, der das Spiel allerdings nur als Zuschauer verfolgen kann. Er war einer von elf Türken, denen Kovacs die Gelbe Karte unter die Nase hielt (insgesamt gab es 17-mal Gelb, einmal Gelb-Rot und einmal Rot).
Sehr zum Umverständnis von Calhanoglu: "Ich bin als Spielführer meines Teams zum Schiedsrichter gegangen, um mit ihm zu sprechen." Laut der neuen Regeln ist dies nur noch den Kapitänen erlaubt: "Aber ich habe trotzdem sofort Gelb bekommen. Ich bin sehr enttäuscht, dass ich das Spiel gegen Österreich verpasse."