Spaniens Chefanalytiker vor EM-Finale Auf der Suche nach Bescheidenheit und Intelligenz
Seit 2008 analysiert Pablo Peña für die spanische Nationalmannschaft Spiele, Gegner und eigene Sportler. Er erlebte die goldenen Zeiten von "La Roja" und schwärmt nun von der neuen Generation, der Bescheidenheit des Teams und von Kapitän Álvaro Morata.
Das Viertelfinale zwischen Deutschland und Spanien war eine der packendsten Partien bei der EM 2024: Zwei Mannschaften mit attraktivem Fußball, offensiver Spielweise und jeder Menge Zug zum Tor. Für Pablo Peña war es aber vor allem "das schwierigste Spiel, um sich darauf vorzubereiten."
Der 40-jährige Madrilene ist Chefanalytiker der spanischen Nationalmannschaft. Die große Schwierigkeit in der Vorbereitung auf das Spiel gegen Deutschland begründet er im Sportschau-Interview so: "Gegen die Mannschaft zu spielen, die einem selbst am ähnlichsten ist, ist wahnsinnig kompliziert. Es kommt auf Kleinigkeiten an."
Anders als andere großen Mannschaften bei dieser EM wie die Niederlande, Frankreich oder England setzten sowohl Deutschland und Spanien auf Angriffsfußball, Kurzpassspiel, um gegnerisches Pressing zu überwinden und einen Aufbau durch das Zentrum, ehe der Ball in Richtung Flügel geschickt wurde.
Wenig verwunderlich also, dass die Kleinigkeiten, auf die es am Ende ankam, weder Kaderplaner noch Trainer beeinflussen können: Eine stumm bleibende Pfeife von Anthony Taylor, als der Schuss von Jamal Musiala an Marc Cucurellas Hand klatschte und eine Unaufmerksamkeit des bis dahin fehlerlosen Antonio Rüdiger in der 119. Minute. So war das Turnier für Deutschland beendet, Spanien zog ins Halbfinale ein und steht erstmals seit dem EM-Sieg 2012 in einem großen Finale.
Mit de la Fuente kam der Umbruch
Als Spanien Italien damals mit 4:0 besiegte war der aktuelle Shootingstar Lamine Yamal vier Jahre alt. Aus dem Kader von 2012 ist einzig der 38-jährige Jesus Navas übrig. Peña ist sogar noch ein wenig länger dabei als Navas. 2008 wurde er mit nur 23 Jahren zum ersten hauptberufliche Spielanalysten des spanischen Fußballverbandes.
Er erlebte die Sternstunden von 2008 bis 2012, als die Spanier den EM- und den WM-Pokal in die Höhe stemmten. "Diese Spieler haben wirklich alles gut gemacht. Wenn man Spieler mit derartig hervorragenden Voraussetzungen hat, hat man die Möglichkeit, etwas Exzellentes zu erschaffen", erinnert sich Peña, der auch dabei war, als dieses Team auseinanderfiel.
Spaniens Weg zu mehr Effizienz: "Wir mussten Ballbesitz opfern"
Nach enttäuschenden Jahren ohne Titel oder Finaleinzug wurde nach dem WM-Aus 2018 Luis de la Fuente zum Nationaltrainer Spaniens berufen und bekam die Aufgabe, einen großen Umbruch herbeizuführen. "Luis kam und hatte eine klare Vision, was sich verändern muss", erklärt Peña.
De La Fuente und sein Team führten eine Anamnese am krankenden Fußballriesen durch und kamen zu einer Diagnose, die Peña so herunterbricht: "Wir brauchten mehr Torschüsse, mehr Torgelegenheiten. Wir mussten das Team neu ausrichten, vertikaler spielen und dafür ein wenig den Ballbesitz opfern".
Spaniens Kaderplanung: Intelligenz als wichtiges Kriterium
Für den neuen Stil brauchte die Nationalmannschaft neues Personal. Anderthalb Jahre hatte de La Fuente Zeit, um die Mannschaft für seine neue Spielweise zu finden, probierte dabei mehr als 60 Spieler aus. Für Peña ist die größte Herausforderung, dem Trainer Spieler zu empfehlen, die in ihren Vereinen komplett anderen Fußball spielen, als bei der EM von ihnen verlangt wird, aber trotzdem die Fähigkeiten dazu haben. "Es ist wichtiger, dass du die Spieler findest, die das sehr gut können, als die besten Fußballer zu berufen. Jeder hat eine Rolle und muss für das Team arbeiten", so Peña.
Neben den vielen Daten und Statistiken, die dem Analytiker mittlerweile zur Verfügung stehen, betont er die Bedeutung von Soft Skills, die nicht objektiv erfasst werden können. Vor der EM 2024 achtete er bei Spielern besonders auf drei Fähigkeiten: Anpassungsfähigkeit, Bescheidenheit und Intelligenz. "In der Nationalmannschaft trainierst du viel mehr mit Video als tatsächlich auf dem Platz, weil du keine Zeit hast. Deswegen brauchst du Spieler, die mental sehr fähig sind und schnell verstehen, was sie auf dem Platz umsetzen müssen und wie sie sich in ein Team einfügen", erklärt Peña.
Loblied auf Morata: "Er ist der pure Fußball"
Kapitän Álvaro Morata ist für Peña so etwas wie die Quintessenz dieser Anforderungen: "Ich kenne ihn, seit er 16 Jahre alt ist. Ich könnte ein stundenlanges Loblied auf ihn halten. Er ist nicht nur einer der besten Stürmer der Welt, sondern auch einer der weltbesten Teamkollegen. Er schaut nur darauf, was der Mannschaft am meisten hilft".
Was Peña damit meint, konnte man im Halbfinale gegen Frankreich beobachten: Morata war kaum am Ball, spielte nur acht Pässe - doch der Mittelstürmer lief in 75 Minuten fast zehn Kilometer, verteidigte tief in der eigenen Hälfte und war ein ständiger Antreiber. "Álvaro ist ein absoluter Leader. Er liebt den Fußball. Er ist der pure Fußball".
Peña: "Dieses Team ist wirklich außergewöhnlich"
Neben alten Leadern wie Morata, Nacho oder Dani Carvajal reift die neue Generation heran, sie übernimmt wichtige Rollen im Team: Der jüngste EM-Torschütze der Historie Lamine Yamal, der 21-jährige Nico Williams, Pedri (21), der bis zu seiner Verletzung Spaniens Angriffe orchestrierte. Oder Dani Olmo (26), der Pedris Aufgabe übernahm und Spanien mit seinem Tor gegen Frankreich ins Finale schoss.
Wird das vielleicht eine neue goldene Generation? Peña möchte sich zu keiner Aussage hinreißen lassen. "Ich bin Realist. Ich prognostiziere nichts, schon gar nicht im Fußball", sagt der 40-Jährige, der so viel schon erlebt hat, und kann sich die nächsten Worte dann doch nicht verkneifen: "Dieses Team ist wirklich außergewöhnlich. Es hat eine eigene Identität, Professionalität und Bescheidenheit. Viele Faktoren in dieser Gruppe sind sehr nah am perfekten Szenario". Perfekte Bedingungen, um noch einmal etwas Exzellentes zu erschaffen.