England mit Stürmer-Problem Kane droht in Southgates System zu versauern
Nach dem schwachen Auftritt von Harry Kane im Auftaktspiel der Engländer gegen Serbien wird die Kritik an Trainer Gareth Southgate lauter. Der Vorwurf: Der Nationaltrainer bremst seinen besten Stürmer aus. Wird gegen Dänemark alles anders?
In den Untiefen des Internets wurde in den vergangenen Tagen mal wieder die viel zitierte Kritik von Mehmet Scholl an Mario Gomez an die Oberfläche gespült. Der ehemalige ARD-Experte hatte dem ehemaligen FC-Bayern-Stürmer während der EM 2012 vorgeworfen, dieser habe sich aufgrund seiner Untätigkeit im Sturmzentrum "wund gelegen". Scholl entschuldigte sich später, Gomez vergab ihm, Sache beendet. Bis zur EM 2024.
Der Grund, warum Scholls Zitat ein digitales Revival erlebte, war der erste Auftritt von Harry Kane bei dieser Europameisterschaft. Der Superstar des FC Bayern, der England zum ersten Titel seit 1966 führen soll, tat beim zähen 1:0-Auftakterfolg gegen Serbien nämlich genau das, was Gomez vor zwölf Jahren vorgeworfen worden war: sehr, sehr wenig.
Kane mit zwei Ballkontakten in 45 Minuten
In der ersten Hälfte sammelte der englische Kapitän ganze zwei Ballkontakte, mit seinem dritten Ballkontakt schoss er den Schiedsrichter ab. Es folgten immerhin 21 weitere Ballberührungen, wirklich zu sehen war Kane aber nur genau zweimal. Einmal köpfte er an die Latte (77.), einmal rettete er in höchster Not im eigenen Strafraum gegen Veljko Birmancevic (83.). "Kane Pain. Bellingham schießt das erste Tor, bevor Kane überhaupt den Ball berührt", titelte die englische "Sun" passend.
Die Häme gegen Kane hat jedoch einen entscheidenden Haken: Der englische Rekordtorjäger folgte gegen Serbien einfach nur den Anweisungen seines Nationaltrainers. Gareth Southgate beorderte Kane in die vorderste Sturmspitze und verlangte von seinem Anführer, auch genau dort zu bleiben.
Sein Plan: Kane sollte - ähnlich wie Erling Haaland bei Manchester City - die Abwehrspieler binden und so Räume für seine nachrückenden Offensiv-Kollegen schaffen. Dieses Vorhaben ging gegen die biederen Serben aber nach hinten los.
Southgate opfert seinen besten Stürmer
Kane ist im Hauptberuf zwar Torjäger, zu einem der besten Angreifer der Welt wird er aber dank seiner Spielmacher-Fähigkeiten. Kane lässt sich gerne fallen, Kane nimmt am Spiel teil, Kane setzt seine Mitspieler ein und macht so seine Teams besser.
Da aber all das gegen Serbien auf dem fußballerischen Index stand, beraubte Southgate seine Mannschaft ihrer gefährlichsten Waffe. Der Nationaltrainer bremste Kane und damit unfreiwillig gleich ganz England aus.
Bis auf das Tor von Jude Bellingham, das aus dem einzig wirklich gelungenen Spielzug resultierte, fand das englische Angriffsspiel quasi nicht statt. Tiefenläufe, Kombinationen oder einfach nur simple Flanken in den Strafraum: All das gab es nicht. Stattdessen versauerte Kane im luftleeren Raum.
Harte Kritik von Carragher
Dass die "Three Lions" nach 90 Minuten sogar einen Torschuss weniger auf dem Konto hatten als Serbien (5:6), dokumentierte die Einfallslosigkeit und brachte die ohnehin gut gefüllten Pulsschlagadern der englischen Chef-Kritiker schon jetzt fast zum Platzen.
"Das ist zutiefst besorgniserregend. Wenn das so weitergeht, wird England die EM nicht gewinnen", fasste Ex-Nationalspieler Jamie Carragher stellvertretend in seiner "Telegraph"-Kolumne zusammen. Kanes Spiel neu zu definieren sei schon jetzt die "umstrittenste Maßnahme", so Carragher. Southgate habe nach nur einer Partie ein "Kane-Problem".
Southgate blendet Kritik aus
Wie und ob das dieses Kane-Problem schon am Donnerstag (20.06.2024, 18.00 Uhr) gegen Dänemark gelöst wird, liegt nun allein in den Händen von Southgate. Der 53-Jährige präsentierte sich auf der Pressekonferenz am Mittwochabend in Frankfurt bewusst entspannt und betonte, die Kritik aus der Heimat auszublenden.
Er habe zwar mitbekommen, was los sei. Er versuche aber, sich damit nicht zu beschäftigen. "Ich schotte mich ab, dann lebe ich in einer glücklicheren Welt", so Southgate: "Das hilft mir, auf Kurs zu bleiben."
Einige der jungen Spieler, auch das unterstrich der englische Nationaltrainer, hätten sich über die Reaktion der traditionell wenig zimperlichen englischen Medien zwar durchaus gewundert. Er selbst, der sich spätestens seit seinem verschossenen Elfmeter im EM-Halbfinale 1996 mit schwierigen Situationen auskennt, habe sich an den Gegenwind aber gewöhnt: "Ich akzeptiere, wie es ist. Das wird meine Arbeit aber nicht beeinflussen."
Southgate blendet Kritik aus
Dass sich Southgate ungerne von außen reinreden lässt und stattdessen oft stur an seinen Ideen festhält, hat die Vergangenheit bewiesen. Ob er Kane gegen Dänemark von der Leine lässt, blieb dementsprechend offen. Für England könnten das sehr schlechte Nachrichten sein.