Titelverteidiger im Achtelfinale raus Italiens Selbstsuche scheitert auf ganzer Linie
Der EM-Titelverteidiger ist völlig zu Recht ausgeschieden. Italien hatte gegen die Schweiz nicht den Dusel der Vorrunde - und steht vor unruhigen Tagen.
Zu Beginn der zweiten Hälfte schien es kurz so, als hätten die Italiener vielleicht doch noch einen rettenden Plan. Gleich acht (!) Spieler machten die Mittellinie zu einer blauen Ameisenstraße, als Nicolò Fagioli den Anstoß ausführte. Doch es war wie so oft in diesem EM-Turnier, wenn Italien etwas vorhatte. Es ging nach hinten los.
In diesem Fall war es besonders eklatant. Über Innenverteidiger Gianluca Mancini gelangte der Ball direkt wieder zu Fagioli. So weit, so geplant. Doch der 23-jährige Mittelfeldmann fand mit seinem viel zu kurzen Pass keinen der nach vorne gestürmten Mitspieler. Stattdessen landete der Ball in den Füßen des Schweizer Strategen Granit Xhaka - und nur Sekunden später versenkte ihn der Augsburger Ruben Vargas im italienischen Tor.
Spalletti: "Ich mache weiter"
Italien hatte den Gegner überrumpeln wollen und wurde selbst überrumpelt. Mal wieder in diesen Wochen bei der EM - und dieses Mal endgültig. Es stand nun 2:0 für die Schweiz. Das Achtelfinal-Aus war schon früh besiegelt und wird unruhige Tage in Fußball-Italien einleiten. "Italien verliert sein Gesicht", titelte die führende Sportzeitung des Landes. Die "Gazetta dello Sport" dürfte damit den Ton der Debatte gesetzt haben.
Das weiß auch Luciano Spalletti. Er kennt die italienische Medienwelt nicht erst seit gestern. "Ich bin gewohnt, mit diesem Druck umzugehen. Ich stehe schon seit Jahren tagtäglich unter Druck", sagte er. Das klang abgeklärt - und doch war nicht zu übersehen, wie es in ihm arbeitete.
Er sei "für dieses Versagen verantwortlich". Schließlich habe er die Spieler nominiert. Verbessern und lernen müsse er nun. Ein Rücktritt? Wohl keine Option. "Wenn ich gefragt werde: 'Was kommt jetzt?' Dann sage ich: 'Ich mache weiter.'"
Zu wenig Zeit zur Vorbereitung?
Vor neun Monaten hatte der 65-Jährige den Job von Roberto Mancini übernommen. "Die anderen Trainer hatten vor dem Turnier 20, 30 Spiele im Amt. Ich nur zehn", sagte er. Zumindest Julian Nagelsmann dürfte sich über diese Aussage wundern, sollte sie ihm zu Ohren kommen. Denn er startete fast gleichzeitig beim DFB-Team.
Was Spalletti aber weiter sagte, war mit Blick auf die Auftritte der Italiener bei der EM unübersehbar. Die Zeit habe nicht gereicht, um vor dem Start zu experimentieren - und seine Idee vom Fußball zu vermitteln. So wurde schließlich das Turnier selbst zur völlig verunglückten Testphase, zu einer erfolglosen Suche nach sich selbst.
Gleich sechs Wechsel in der Startelf
Das fing gegen die Schweiz schon bei der Aufstellung an. Zweimal hätte Spalletti - wegen Verletzung (Dimarco) und Gelbsperre (Calafiori) - reagieren müssen. Er entschied sich für einen anderen, einen radikaleren Weg. Er wechselte auf sechs Positionen und das System gleich mit. Aus dem 3-5-2 gegen Kroatien wurde wieder ein 4-3-3.
Ganz sicher hatte er sich dabei etwas gedacht. Was genau, war im Spiel seiner Mannschaft jedoch nicht zu erkennen. Und zwar zu keinem Zeitpunkt. Spalletti lieferte später zumindest den Ansatz einer Erklärung: "Bei der letzten Niederlage (gegen Spanien, Anm. d. Red.) hatte ich mir Vorwürfe gemacht, weil ich nicht so viel gewechselt habe und wir deshalb keine Intensität auf den Platz bringen konnten", sagte der erfahrene Coach.
Die Schweiz macht's wie Spanien
Der Haken? Die vielen Wechsel behoben das Problem nicht. Auch im Achtelfinale fehlte den Italienern die Intensität. Die Schweiz hatte sich vor dem Spiel gegen die Favoritenrolle gewehrt - und konnte dann gar nicht anders, als sie auf dem Feld anzunehmen.
Denn der Titelverteidiger stolperte fast bemitleidenswert in und durch das Spiel. Er war weder hinten kompakt noch vorne kreativ, ja: ein erschreckend hilfloser Gegenspieler.
Auf 11:2 Torschüsse kam das Team von Murat Yakin schon zur Pause. Das hatte schon fast Züge der italienischen Schmach gegen Spanien in der Vorrunde. Dass die "Squadra Azzurra" überhaupt noch im Spiel war, lag - wie schon im gesamten Turnier - allen voran an Gianluigi Donnarumma.
Der Top-Torhüter in Top-Form konnte einem bei seinen Vorderleuten fast schon leidtun. "So auszuscheiden tut weh. Das Aus ist verdient und die Art und Weise schwer zu verarbeiten. Es hat heute alles gefehlt, die Qualität, der Mut", klagte der 25-Jährige.
Spalletti: "Müssen am Gerüst etwas verändern"
So müssen die Italiener nun zuschauen. Bei Weltmeisterschaften kennen sie diese Rolle vor dem Fernseher in der jüngeren Vergangenheit nur zu gut. Bei einer EM ist sie neu. 2004 fand ein Viertelfinale zum letzten Mal ohne die Italiener statt. Sie werden die ungewollt freie Zeit nutzen, um mit den Aufräumarbeiten zu beginnen.
"Man hat ein Team gesehen, das noch keine Grundidentität hat", sagte Spalletti. Die Mannschaft habe ihr Gesicht verloren, schrieb die "Gazetta dello Sport". Man könnte auch sagen, sie hatte bei diesem Turnier nie eines.
Und so kündigte der 65-Jährige personelle Änderungen an. Gegen die schlappen Auftritte bei dieser EM in Deutschland - und für mehr Agilität. "Wir brauchen Leute, die laufstärker und laufbereiter sind. Wir brauchen Leute, die der Motor dieses Teams sein können", sagte der Trainer.
Ein letzter Schuss wie ein ganzes Turnier
Das ist der Blick in die unsichere Zukunft. Für die Gegenwart hatte derweil der letzte Angriff der Italiener bei der Euro 2024 Symbolkraft. 45 Sekunden waren in der Nachspielzeit abgelaufen, da zog Federico Chiesa zum rechten Strafraumeck. Ein Spieler, der am Ball eigentlich alles kann - und zwar mit beiden Füßen.
Nun zielte der Offensivspieler von Juventus Turin und der Ball nahm eine Flugkurve, wie sie der Vorzeige-Techniker wohl höchstens aus Alpträumen kennt. Nein, der Ball flog nicht etwa weit über oder neben das Tor. Er landete im gegenüberliegenden Seitenaus. Ein Schuss wie Italiens Turnier.