Stimmung bei der Heim-EM Fanexperte Michael Gabriel: "Die Grundatmosphäre hat sich verändert"
Der Leiter der Koordinationsstelle Fanprojekte, Michael Gabriel, warnt davor, bei der EM 2024 ständig Vergleiche mit der WM 2006 anzustellen. Der Fußball könne gesellschaftliche Konflikte nicht lösen.
Es geht voran. Am Main in Frankfurt schrauben sich Monteure in luftige Höhen, um die Konstruktion für ein abermals spektakuläres Areal fürs Public Viewing direkt am Flussufer zu errichten. Die Stadt gibt rund 15 Millionen Euro aus, damit auf zehn Bildschirmen alle EM-Spiele übertragen werden.
Hier können sich bald bis zu 30.000 Menschen versammeln, und viele werden auf die "Big Screen" schauen, eine auf dem Main schwimmende elektronische Leinwand. Alles ist ans erfolgreiche Konzept bei der WM 2006 angelehnt, als diese Bilder um die Welt gingen. Michael Gabriel als Leiter der Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS) hält im Gespräch mit der Sportschau allerdings wenig davon, ein Sommermärchen 2.0 zu erwarten.
Den Fußball nicht überfrachten
"Ich würde ein wenig davor warnen, die EM 2024 an der außergewöhnlichen WM 2006 zu messen. Die gesellschaftliche Grundatmosphäre hat sich verändert. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa. Ich glaube, dass viele Leute heute mehr Sorgen haben. Es gibt mehr Konflikte in den einzelnen Ländern, aber auch in Europa. Was die Kraft des Fußballs trotzdem schaffen kann: ein Fenster für schöne Erlebnisse zu öffnen, um die Menschen zusammenzubringen.“
Michael Gabriel, Leiter Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS)
Das Turnier ist aus seiner Sicht auch nicht geeignet, um zentrale gesellschaftliche Fragen wie Einwanderung, Klimaschutz oder Rechtsextremismus substanziell zu beeinflussen. "Das wäre eine Überfrachtung des Fußballs." Trotzdem hätte das Turnier immer noch eine riesige Kraft, "über reale Begegnungen bei einer großen Anzahl von Menschen etwas zu bewirken und positive Zeichen zu setzen, aber der Fußball kann keine gesellschaftlichen Konfliktlagen beheben".
Auch vor der WM 2006 war nicht alles eitel Sonnenschein
Gabriel erzählt an dieser Stelle gerne seine Erfahrung von der WM 2010 in Südafrika: "Da haben uns die Menschen erzählt, dass in jenen vier Woche Dinge möglich gewesen sind, die im Alltag vorher und nachher undenkbar waren. Leute sind auf einmal in Viertel gekommen, die sie nie betreten konnten. Nach der WM war das aber auch nicht mehr möglich."
Für ihn ist ebenfalls wichtig, den Rückblick auf 2006 nicht zu verklären, als die KOS im Auftrag des Organisationskomitees das Fanbetreuungsprogramm durchgeführt hat. Auch damals habe im Vorfeld nicht nur eitel Sonnenschein geherrscht. Im Gegenteil: "Vor der WM war relativ große Skepsis und auch keine richtige Vorfreude zu spüren. Das hat sich mit dem Wetter und dem ersten Sieg der deutschen Mannschaft vollkommen gewandelt", erinnert sich der 60-Jährige.
Besondere Stimmung: Fanzone in Berlin bei der WM 2006
Erfolgfaktoren 2006: Wetter, Public Viewing und Gastfreundschaft
Der Stimmungsumschwung in der Bevölkerung sei "auf sehr gastfreundliche Strukturen getroffen". Die bis dahin bei solchen Turnieren noch gar nicht gängigen Public-Viewing-Angebote in großer Zahl seien damals sowohl von Einheimischen als auch Gästen genutzt worden. Hinzu kam für den Fanexperten noch die Herangehensweise der Polizei, "die sehr auf Dialog und Zurückhaltung ausgelegt war und der Fankultur ihre Räume gelassen hat". Nur ein Beispiel: Als englische Fans am Frankfurter Römerberg in den Justitiabrunnen sprangen, sei das toleriert worden.
Um Fans bei der EM 2024 bei möglichen Fragen und Problemen bestmöglich unterstützen zu können, organisiert die Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS) bei der Deutschen Sportjugend (dsj) in allen zehn Austragungsstäten an zentralen Plätzen Anlaufstellen. Verantwortlich umgesetzt wird das Fanbetreuungsprogramm in den zehn Host Cities durch die lokalen Fanprojekte. Die KOS arbeitet dabei eng mit der europäischen Fanorganisation Football Supporters Europe (FSE), der EURO 2024 GmbH und den Host Cities zusammen, damit die Kommunikationswege kurz sind.
Was kann die Fußball-EM noch bewirken? Dem seit 1996 für die KOS arbeitenden Gabriel fällt das Thema Nachhaltigkeit ein. "Erstmals genießt in der Turnierorganisation die Nutzung der Bahn Vorrang vor dem Flieger. Teams und Fans sind auf die Bahn und den ÖPNV angewiesen. Das ist sicher ein Signal, das den ÖPNV in Deutschland stärken wird." Die Debatte über den Zustand der Deutschen Bahn sei zwar auch ins Ausland geschwappt, merkt Gabriel mit einem Augenzwinkern an, "aber sie ist trotzdem für Fans ein attraktives Fortbewegungsmittel". Genauso erwartungsvoll ist er, dass Werte wie Toleranz, Vielfalt, Respekt und Demokratie über die EM sichtbar werden.
Die Zahl der anreisenden Fans ist schwer zu bestimmen
Eine Unbekannte ist, wie viele Anhänger letztlich wirklich nach Deutschland kommen. "Das können immer nur Schätzungen sein, aber wir haben natürlich Erfahrungen mit Turnieren." Insbesondere Schotten und Engländer würden in großer Zahl anreisen, "das hängt auch mit den sportlichen Erwartungen beider Teams zusammen, ds rechnen wir schon mit 40.000 oder 50.000 Leuten in der Vorrunde", sagt der KOS-Leiter.
Die Ausweitung des Teilnehmerfelds seit der EM 2016 führt auch zu größeren Reiseaufkommen kleinerer Nationen. "Wir müssen davon ausgehen, dass in Ländern wie Georgien, Slowenien oder Albanien eine riesige Vorfreude herrscht, denn die qualifizieren sich in der Regel nicht. Wir müssen bei vielen Ländern, der Türkei, Kroatien oder Polen auch mitbedenken, dass es eine große Diaspora in Europa gibt." Die EM-Organisatoren geben die Zahl von zehn bis zwölf Millionen Fans an, die über die nächsten Wochen nach Deutschland kommen.
In der Wahrnehmung ist die Sicherheitslage angespannter
Ein großes Thema ist die Sicherheitslage, die subjektiv viel angespannter als vor der WM 2006 ist. Gabriel gibt zu bedenken, dass es 2004 in Madrid auch schwere Anschläge gegeben habe, "dennoch scheint eine abstrakte Gefährdung in der Wahrnehmung vieler Menschen näher gerückt zu sein".
Da Behörden und Organisatoren aber darauf verweisen, dass es nach aktuellem Stand keine konkrete Bedrohungslage gebe, würde sich der Fanexperte wünschen, dass die Menschen "die Chance nutzen, die eine Europameisterschaft bietet".
Die Polizei sollte sich als Partner zu verstehen geben
In diesem Zusammenhang plädiert er dafür, dass vonseiten der Sicherheitskräfte auf Kommunikation und Zurückhaltung gesetzt wird. Ganz einfach deshalb, weil Fans die Sicherheitskräfte dann als Partner wahrnehmen und im Fall eines Vorfalls auch eher befolgen, was die Polizei vorgibt.
Ein bisschen zu kurz kommt ihm bei den vielen Fragen nach der Sicherheit allerdings, "wie die Ausrichterstädte sich gerade mit ihren vielfältigen Angeboten der Gastfreundschaft auf die EM vorbereiten". Sein Wunsch: Diese Einladung, wie sie gerade auch in Frankfurt nicht nur am Mainufer entsteht, sollten die Menschen auch jetzt wieder annehmen.