Andreas Rettig
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Nachfolge von Oliver Bierhoff Der DFB beweist Mut mit der Personalie Rettig

Stand: 15.09.2023 14:32 Uhr

Andreas Rettig zu verpflichten, ist eine spannende Richtungsentscheidung des DFB. Der neue Geschäftsführer ist ein Gegenentwurf zu Oliver Bierhoff - und ein Gegengewicht zu Aki Watzke.

Zuletzt war Rettig so etwas wie das gute Gewissen des deutschen Fußballs. Er verteidigte Menschenrechte, nannte die WM in Katar den "Tiefpunkt der Turbokommerzialisierung", forderte mehr Umverteilung im deutschen Profifußball. Ex-Bayern-Präsident Uli Hoeneß war derart genervt, dass er ihn den "König der Scheinheiligen" nannte.

Rettig konnte in den vergangenen Monaten frei sprechen, sein letztes Engagement in der Geschäftsführung von Drittligist Viktoria Köln hatte vorzeitig geendet. Es schien so, als fühlte sich Rettig abseits des operativen Geschäfts wohl. Doch jetzt ist der 60-Jährige wieder mittendrin.

Rettig für Bierhoff - ein Kulturwandel

Dass er Geschäftsführer beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) wird, hat selbst Insider überrascht. Sein Aufgabengebiet, die Bereiche Nationalmannschaften und die DFB-Akademie, klingt sehr nach dem, wofür Oliver Bierhoff bis zu seiner Entlassung Ende 2022 stand. Rettig statt Bierhoff, ein Fußballromantiker statt eines Manager-Typen - es ist ein Kulturwandel.

Rettig wird wohl nicht so omnipräsent sein wie zuvor Bierhoff, dafür ist aktuell Rudi Völler da. Der Publikumsliebling wird als Direktor der A-Nationalmannschaft die DFB-Elf weiter öffentlichkeitswirksam begleiten, mindestens bis zur Heim-EM 2024. Aber Rettig wird im Hintergrund die Richtung vorgeben - eine extrem wichtige Aufgabe in schwierigen Zeiten.

Spagat zwischen Profis und Amateuren

Nicht nur die Finanzen des DFB sind ein Sanierungsfall, erschüttert durch sportliche Misserfolge und Altlasten wie den teuren DFB-Campus. Auch das Binnenklima und die Außendarstellung sind stark verbesserungswürdig.

Der DFB ist traditionell zerrissen zwischen dem Amateur- und dem Profisport. Die Basis fühlt sich oft vernachlässigt, meist zu Recht. Gleichzeitig braucht der DFB dringend wieder Erfolge seiner A-Nationalmannschaften. Ex-Nationalspieler Sami Khedira, lange als neuer Geschäftsführer gehandelt, hätte für einen Fokus auf den Profibereich gestanden, Nadine Keßler als UEFA-Funktionärin wohl auch.

Rettig ist eher zuzutrauen, den Spagat zu schaffen. Er ist ein Mann des Hochleistungssports, dort bestens vernetzt, vertritt aber auch glaubwürdig Werte und Interessen der Basis.

Rettig als Gegengewicht zu Watzke

Rettig könnte auch für ein besseres Gleichgewicht im Verband sorgen. Bisher wirkte es, als hätten die Profis durch Hans-Joachim Watzke einen ungesund großen Einfluss. Watzke ist aktuell der mächtigste Mann im deutschen Fußball, Borussia Dortmunds Geschäftsführer ist als Aufsichtsratsvorsitzender der DFL auch Vizepräsident des DFB. Die Amateure sind dagegen weit weniger prominent repräsentiert, ihr Vizepräsident ist Ronny Zimmermann.

Konflikte scheut Rettig jedenfalls nicht. Zuletzt kritisierte er öffentlich den Prozess beim geplanten Investoren-Einstieg in der DFL als intransparent, zudem sei die Verteilung ungerecht. Der Deal scheiterte, zu viele Klubs stimmten dagegen - sehr zum Unmut von Watzke.

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Kaum brisant dürfte ein viel zitierter Satz von Völler aus dem Jahr 2015 sein: "Das ist ein typischer Rettig, er macht ein bisschen auf Schweinchen Schlau." Rettig und Völler hatten damals als St.-Pauli-Manager und als Sportchef von Bayer Leverkusen diametral unterschiedliche Interessen zu vertreten. Rettig gilt trotz seiner vielen unbequemen Äußerungen als geschätzt in der Szene, auch von seinem alten Weggefährten Völler.

Wie schlägt Rettig sich in der Realpolitik?

Spannend wird sein, ob der ewige Mahner Rettig im komplexen DFB gestalten und vereinen kann und wie er sich in der Realpolitik schlägt. Wie handelt er zum Beispiel, wenn die FIFA eine WM nach Saudi-Arabien vergibt? Die Personalie Rettig ist mutig, aber einen Versuch wert. Der DFB stellt die Weichen für mehr Basisnähe und demokratische Strukturen.