Chaos in der Premier League Englische Schiedsrichter - gut genug für die beste Liga der Welt?
Nach einem offensichtlichen VAR-Fehler im Spiel des FC Liverpool bei Tottenham Hotspur debattiert der englische Fußball über die Qualität seiner Schiedsrichter. Es wird immer offensichtlicher: nicht die Technik ist das Problem - sondern der Mensch.
Die beiden Männer, die seit Samstagabend im Zentrum einer hysterischen Debatte im englischen Fußball stehen, haben erstmal Pause bekommen. Eigentlich sollten Darren England und Dan Cook am Sonntag und am Montag schon wieder in der Premier League im Einsatz sein, doch die englische Schiedsrichter-Organisation PGMOL zog sie kurzfristig ab.
Auch am kommenden Wochenende werden sie nicht im Einsatz sein. Grund dafür ist, dass ihnen bei der Partie zwischen Tottenham Hotspur und dem FC Liverpool (2:1) ein "signifikanter menschlicher Fehler" unterlaufen war, wie die PGMOL es formulierte.
Reguläres Tor nicht gegeben
Dieser Fehler bestand darin, dass England und Cook es als Videoschiedsrichter versäumt hatten, eine Entscheidung des Haupt-Referees Simon Hooper zu korrigieren. Hooper hatte nach einer halben Stunde den Treffer von Liverpool-Stürmer Luis Díaz zum vermeintlichen 1:0 wegen Abseits aberkannt. Dabei zeigte die Zeitlupe eindeutig, dass Díaz beim Pass von Mohamed Salah nicht in der verbotenen Zone gestanden hatte.
Zu dieser Einschätzung waren wohl auch die beiden Videoschiedsrichter gekommen. Offenbar glaubten sie allerdings, dass Hooper ohnehin auf Tor entschieden hatte - weshalb sie von einer Intervention absahen. Als ihnen ihr Fehler auffiel, war es zu spät. Das Spiel lief schon wieder.
Liverpool prüft rechtliche Schritte
Die Schiedsrichter-Organisation PGMOL unter der Leitung des einstigen Weltklasse-Referees Howard Webb kündigte eine Aufarbeitung auf. Der FC Liverpool prüft rechtliche Schritte gegen die Wertung des Spiels und drängte auf die Veröffentlichung der Ton-Aufnahmen der Kommunikation zwischen den Videoschiedsrichtern und dem Schiedsrichter auf dem Feld. Am Dienstag (03.10.23) hat der Schiedsrichterverband diese Mitschnitte veröffentlicht.
Ex-Profis, Ex-Schiedsrichter und Medien übertreffen sich mit Ratschlägen, wie sich solche Fehler künftig vermeiden lassen. Die Ideen reichen von der Abschaffung des VAR in der Premier League (nicht realistisch) über die Einführung eines halb-automatischen Abseits-Systems (frühestens zur neuen Saison denkbar) bis zur besseren Ausbildung und Bezahlung von Schiedsrichtern (scheint am zielführendsten).
Laut PGMOL seien "wichtige Lehren" gezogen worden, "um das Risiko eines künftigen Fehlers zu verringern". Genauigkeit soll künftig Vorrang vor Effizienz haben, dazu werde ein neues VAR-Protokoll entwickelt, um die Klarheit der Kommunikation zwischen den Schiedsrichtern zu verbessern.
Lange Liste von Fehlern
Die Aufregung ist besonders groß, weil der Fehler kein Einzelfall war, sondern nur der bisher spektakulärste in einer langen Liste von VAR-Versäumnissen in der Premier League. Die PGMOL-Kommunikationsabteilung hat mittlerweile eine beachtliche Routine im Verfassen von öffentlichen Eingeständnissen und Entschuldigungen.
Zwei bemerkenswerte Vorfälle gab es im Februar. Ein Treffer von Brentford-Stürmer Ivan Toney gegen den FC Arsenal hatte fälschlicherweise Bestand, weil sich der Videoschiedsrichter die falsche Sequenz anschaute. Brighton & Hove Albion wurde gegen Crystal Palace ein reguläres Tor vorenthalten, weil der Videoschiedsrichter die Abseits-Linien falsch anlegte. Am ersten Spieltag der laufenden Saison verwehrte der VAR den Wolverhampton Wanderers bei Manchester United einen klaren Elfmeter in der Nachspielzeit.
Experten melden sich zu Wort
Nach dem Fehler vom Wochenende scheint die Geduld des englischen Publikums mit dem Videoschiedsrichter aufgebraucht zu sein. "Ich denke nicht, dass die Stimmung um den VAR je niedriger war", sagte der einstige Liverpool-Kapitän Jamie Carragher. Die aktuellen Geschehnisse deutete er als "crisis point" für den Videoschiedsrichter in England: als Punkt also, an dem es nicht einfach weitergehen kann wie bisher.
Liverpool-Trainer Jürgen Klopp befürwortet eine grundlegende Debatte über das technische Hilfswerkzeug: "Wenn man darüber sprechen will, muss man es richtig machen", sagte er nach dem Tottenham-Spiel und zeigte sich ungewohnt solidarisch mit Schiedsrichter Hooper und seinen Videoassistenten: "Wir können nicht einfach sagen: Hört auf, Fehler zu machen! Fehler passieren."
Klopp traf damit genau eine der vorläufigen Schlussfolgerungen der Debatte. Das Problem ist nicht die Technik, sondern die Kommunikation zwischen Schiedsrichtern und der VAR-Zentrale in Stockley Park nahe des Londoner Flughafens Heathrow. Bei vergleichbaren Fällen in der Vergangenheit war es ähnlich. Fast immer waren die Fehler menschliche Fehler.
Kaum Top-Schiedsrichter in England
Nach dem jüngsten VAR-Chaos fragt sich der englische Fußball, ob seine Schiedsrichter gut genug sind. Fest steht, dass nach dem Rückzug von namhaftem Referees wie Howard Webb (2014) und Mark Clattenberg (2017) das Niveau überschaubar ist. Nur zwei Vertreter der englischen Schiedsrichter-Gilde genügen aktuell höchsten Standards, nämlich Michael Oliver und Antony Taylor.
Dahinter tut sich eine Lücke auf. Die "VAR-Krise" sei das Ergebnis "der am wenigsten kompetenten Gruppe von Offiziellen in der jüngeren Erinnerung", schrieb der angesehene Kolumnist Martin Samuel in der "Times". Selbst Ex-Schiedsrichter stellen ihren Kollegen ein verheerendes Zeugnis aus: "Die Premier League hat die besten Spieler und Trainer. Aber die Offiziellen sind nicht in der Nähe des benötigten Levels", schrieb der bis 2013 in der Premier League aktive Mark Halsey in der "Sun".