Zum ersten Mal im Halbfinale Spanien - Vilda sorgt erst für Querelen, dann für Erfolg
Dass Spanien spielerisch eines der besten Teams der Welt ist, war vor der Frauen-WM 2023 allen klar. Dennoch überrascht der gute und überzeugende Auftritt der "Selección". Im Vorfeld des Turniers in Australien und Neusseland hatte lange ein Streit zwischen Mannschaft und Trainer Jorge Vilda die Schlagzeilen bestimmt.
Als Schiedsrichterin Stephanie Frappart aus Frankreich am Freitag (11.08.2023) die Verlängerung des Viertelfinals gegen die Niederlande abpfiff und der erstmalige Einzug in ein WM-Halbfinale perfekt war, konnte auch Jorge Vilda nicht mehr stillstehen. Co-Trainer, Betreuer-Team, Ersatzspielerinnen, Torhüterin, Siegtorschützin und "Spielerin des Spiels" Salma Paralluelo - sie alle wurden vom spanischen Nationaltrainer geherzt, umarmt, abgeklatscht und gefeiert.
Verband hielt an Trainer Vilda fest
Diese Szenen sind deswegen erwähnenswert, weil zwischen dem sportlichen Erfolg auf dem Rasen und einem großen Eklat hinter den Kulissen beim Weltranglisten-Sechsten gerade einmal knapp zwölf Monate liegen. Im vergangenen September hatten 15 Nationalspielerinnen ein Schreiben an den spanischen Fußballverband aufgesetzt, in dem sie offenbar ihrem Unmut über den Nationaltrainer Ausdruck verliehen. Sie forderten, "dass die Lage korrigiert" werde, um die "Leistungsfähigkeit" der Mannschaft zu verbessern.
Zuvor war Spanien bei der Frauen-EM im Viertelfinale gegen den späteren Titelgewinner England nach Verlängerung ausgeschieden. Der Verband ließ sich jedoch nicht unter Druck setzen: Man hielt am langjährigen Coach fest und bat die betreffenden Spielerinnen, ihre Fehler einzusehen.
Auf Bonmati, Caldentey und Batlle ist Verlass
Am Ende blieb von einer möglicherweise geplanten "Meuterei" gegen Vilda, dem Gerüchte zufolge unter anderem falsches Training und die Missachtung von Reservistinnen vorgeworfen wurden, nur ein Sturm im Wasserglas übrig. Zwölf der 15 Briefeschreiberinnen sind mittlerweile nicht mehr Teil des Nationalteams, der Fußballlehrer hat den "Machtkampf" für sich entschieden.
Für den WM-Kader nominierte Vilda im Frühsommer aus dem "Kreis der 15" nur Ona Batlle, Aitana Bonmati und Mariona Caldentey. Und diese drei sind in Down Under Eckpfeiler des spanischen Erfolgs. Verteidigerin Batlle und Bonmati, die bereits drei Treffer erzielte, im Mittelfeld spielen immer von Beginn an. Stürmerin Caldentey kam nach einer "schöpferischen Pause" im Spiel gegen die Schweiz im Viertelfinale gegen die Niederlande zurück in die Startelf, spielte stark und schoss das wichtige Führungstor.
"Noch nie eine so komplette Mannschaft wie diese"
Aus einem nach der EM im Vorjahr mutmaßlich zerstrittenen Haufen ist binnen eines knappen Jahres eine echte Einheit geworden. Jede rennt und kämpft für jede. Die "Selección" hat sogar das Zeug zum Titelgewinn, er wäre eine faustdicke Überraschung. Im Halbfinale muss dafür am Dienstag (15.08.2023, 10 Uhr MESZ, im Audiostream und Live-Ticker auf sportschau.de) zunächst einmal Schweden aus dem Weg geräumt werden. Glaubt man dem Trainer, ist das selbstverständlich möglich. Vilda hatte sich schon vor WM-Beginn auf das Turnier mit seinem Team gefreut: "Wir hatten noch nie eine so komplette Mannschaft wie diese."
Und der Nationaltrainer muss es wissen, schließlich ist er schon seit acht Jahren für die "Furia Roja" verantwortlich. Pikanterweise kam er an den Job, als nach Querelen und Unstimmigkeiten zwischen Team und Trainer rund um die WM 2015 (Vorrunden-Aus) und einem Protestbrief der Mannschaft gegen ihn der damalige Coach Ignacio Quereda zurücktrat.
Halbfinale schon das bisher beste Ergebnis
Große Erfolge feiern konnte Vilda seit seinem Amtsantritt mit der spanischen Nationalmannschaft bisher noch nicht. Immerhin führte er sie aber 2019 (Achtelfinale) und in diesem Jahr in die K.o.-Phase der WM - seinem Vorgänger war das 2015 erstmals in der spanischen Fußballgeschichte gelungen. Bei den Europameisterschaften 2017 und 2022 schieden die Spanierinnen im Viertelfinale aus, für Olympische Spiele gelang bisher noch nie die Qualifikation.
In Down Under scheint nun aber eins zum anderen zu passen. Die erfahrenen Irene Paredes, Jennifer Hermoso und Esther Gonzalez bilden das Gerüst des Teams, für das aber junge Spielerinnen wie die 19 Jahre alte Viertelfinal-Heldin Paralluelo mindestens ebenso wichtig sind. 13 Spielerinnen aus dem Aufgebot sind erst 25 Jahre alt oder jünger.
Versöhnliche Geste des spanischen Fußballverbands
Für gute Stimmung im spanischen WM-Team dürfte auch gesorgt haben, dass der nationale Fußballverband bereits im Vorfeld jeder Spielerin 15.000 Euro zahlte. Mit diesem Geld konnten Reisen von Familienmitgliedern oder Freunden nach Down Under finanziert werden. Die Maßnahme kann getrost als Versöhnungsangebot nach dem Krach im vergangenen Herbst verstanden werden.
Und so werden auch scheinbar unpopuläre Entscheidungen des Trainers offenbar vom ganzen Team ohne Murren mitgetragen. So kam etwa die erst 22 Jahre alte Torhüterin Cata Coll vom FC Barcelona beim 5:1 im Achtelfinale gegen die Schweiz überraschend zu ihrem Länderspiel-Debüt. Stammtorhüterin Misa Rodriguez aus Madrid hatte im letzten Gruppenspiel vier Gegentreffer gegen Japan kassiert, die 24-Jährige musste auch gegen die Niederlande zuschauen.
Vilda dosiert Belastung bei Putellas behutsam
Auch die Personalie Alexia Putellas bereitet dem Trainer bisher offenbar keine Kopfschmerzen. Die Welt- und Europafußballerin des Jahres war nach einem Kreuzbandriss zwar rechtzeitig vor dem Turnier wieder fit geworden, befindet sich aber offensichtlich noch nicht in Topform. Vilda brachte die 29-Jährige in der Vorrunde zum Auftakt als Joker, dann zweimal von Beginn an, aber nicht über die volle Spielzeit. In den K.o.-Spielen gegen die Schweiz und die Niederlande kam die Angreiferin vom FC Barcelona wieder erst von der Bank zum Einsatz. Misstöne von Putellas sind deswegen nicht zu vernehmen.
Coach Vilda könnte gegen Schweden auf Superstar Alexia Putellas setzen.
Es scheint, als dosiere Vilda die Belastung für seine so wertvolle Offensivkraft (28 Tore in 107 Länderspielen) ganz bewusst. Bisher war Putellas zwar noch kein großer Faktor im spanischen Spiel, das allerdings könnte sich schon gegen Schweden ändern. Und auch das würde Vilda, der zuletzt so vieles im spanischen Team richtig gemacht und es zurück in die Erfolgsspur geführt hat, wieder voll in die Karten spielen.