Jahresrückblick 2023 Der Triumphmarsch von Tampere - DEB-Team wird Vizeweltmeister
Sie waren ganz dicht dran, doch am Ende ging der WM-Pokal wieder einmal nach Kanada - und nicht zum ersten Mal nach Deutschland. Obwohl der letzte Schritt zum größten Erfolg in der Geschichte des deutschen Eishockeys ausblieb, bot das Turnier in Tampere und Riga ein sportliches Spektakel, das die deutsche Öffentlichkeit in knapp drei Wochen immer mehr in seinen Bann zog.
Es begann jedoch so, wie große Turniere eben beginnen, die eigentlich nicht gut enden werden. Mit einer Reihe von Spieler-Absagen nämlich, deren Begründungen möglicherweise auch nur schlecht getarnte Ausreden waren. Über dem Unterfangen Eishockey-WM in Tampere und Riga stand fett, kursiv und unterstrichen: Notlösung. Die Erwartungen hielten sich in sehr engen Grenzen.
Notlösungen für die Eishockey-WM
Zunächst einmal standen keine großen Stars aus Übersee und keine ausgewiesenen DEL-Torjäger im Kader, dazu mit Harold Kreis ein neuer Bundestrainer hinter der Bande, der nach dem plötzlichen Weggang des Finnen Toni Söderholm als Übergangslösung tituliert wurde. Es überraschte also niemanden, dass diese DEB-Auswahl die ersten drei Spiele dieser WM allesamt verlor.
Gegen Schweden, Finnland und die USA, jeweils nur mit einem Tor Unterschied zwar, aber drei Niederlagen ließen sich eben nur schwer als Achtungserfolge verkaufen. Obwohl schon in diesen ersten, sportlich eher unglücklichen Tagen deutlich wurde: In diesem deutschen WM-Team steckt eine ganze Menge Potenzial.
Kapitän Moritz Müller gibt den Kurs vor
Wie eigentlich fast immer wuchs Moritz Müller in dieser kritischen Auftaktphase mehr und mehr in seine Rolle als Anführer hinein. "Wir hatten dieses Szenario von drei Niederlagen in den ersten drei Spielen vorher durchgespielt", erzählt er ein halbes Jahr danach im Gespräch mit der Sportschau. "Und uns allen war immer klar: Das vierte Spiel, gegen Dänemark also, wird uns die Richtung bei dieser WM zeigen."
Es wurde ein wildes Spiel. Mit Rückstand, Führung, Pfostenschüssen, einem großartigen Tor von Verteidiger und Mannschaftskapitän Müller, mit fünf Treffern in den letzten fünf Minuten und einem Endstand von 6:4, der wieder alle Hoffnungen auf das Viertelfinale zuließ. Von jetzt an gab es für die deutsche Mannschaft nur noch Endspiele.
Deutschlands Nobodys sind perfekt
Und längst hatte sich vor allem die Nobody-Reihe ins Rampenlicht gespielt. Mit Wojciech Stachowiak, dem Typen mit den wehenden Haaren, mit Parker Tuomie, dem unermüdlichen Kraftpaket, und mit Justin Schütz, dem furchtlosen Draufgänger. Diese Reihe, auf dem Papier mit der Zahl 4 versehen, wuchs erst zusammen und dann über sich hinaus. Gegen Österreich sorgte diese Reihe zusammen mit einem überragenden Nico Sturm für den nächsten Erfolg.
Jeder Spieler wurde sicherer, die Abläufe wurden selbstverständlicher. Die Vorrunde endete mit einer Bilanz von vier Siegen und drei Niederlagen und dem Ticket fürs Viertelfinale in Riga. Gegen die Schweiz. Mal wieder. Wie schon so oft in K.o.-Spielen. Wieder als Außenseiter, denn die Schweizer hatten bislang ein fast perfektes Turnier gespielt, dabei die Kanadier besiegt und auch die Tschechen. Doch die deutsche Mannschaft hatte vor, für ein klares Signal zu sorgen.
Moritz Müller und Co. wollten den Schweizern gleich einen Vorgeschmack auf das Spiel geben und wählten jene leere Kabine, die der Schweizer Kabine gegenüberlag. "Wir wollten da nicht hinkommen und niemanden stören, sondern wir wollten laut sein und anecken." Sie wollten den Schweizern in ihrer Komfortzone den akustischen Mittelfinger entgegenstrecken und stellten ihren Ghettoblaster vor die Kabinentür, als die Schweizer vom Trainingseis heruntergestiefelt kamen.
Die Legenden von Riga
Diese Geschichte hat natürlich das Zeug zur Legendenbildung, genauso wie das Viertelfinale selbst, in dem der junge Moritz Seider voller Übermut früh eine verdiente Spieldauerstrafe erhielt, und Deutschland fortan ohne seinen besten Verteidiger auskommen musste.
Großartig die beiden Tore zum 3:1, spät im zweiten Drittel. Durch einen Handgelenkschuss von JJ Peterka, der ein paar Tage später zum besten Stürmer des Turniers gewählt werden sollte, und durch ein Unterzahltor von Nico Sturm, das die russische "Sbornaja" der 80er Jahre nicht schöner hätte herausspielen können.
Früher Rückstand gegen die USA
Und dann also, an jenem Samstag, als Borussia Dortmund die deutsche Fußball-Meisterschaft verspielte, kam es zum großen Showdown mit den US-Amerikanern, die das Gruppenspiel gegen Deutschland noch mit Glück und durch ein spätes Powerplay-Tor gewonnen hatten. Dieses Mal lag die DEB-Auswahl schon nach vier Minuten mit 0:2 zurück, und das Halbfinale schien seinen unvermeidlichen Gang zu nehmen. Doch die Deutschen kamen noch im ersten Drittel zum Ausgleich, gerieten dann erneut in Rückstand, warfen alles hinein, trafen durch den Berliner Jonas Müller aber zunächst nur die Latte.
"Ich habe dem Nöbi vor jedem Spiel gesagt, dass sein Augenblick noch kommen wird", erinnert sich Müller. Und dieser große Augenblick kam 83 Sekunden vor der Schluss-Sirene, und der bis dahin eher glücklose Marcel Noebels traf zum hochverdienten Ausgleich. In der Verlängerung schlug dann die Stunde von Freddy Tiffels, der mit ungeheurer Eleganz auf der linken Seite davonflog und eines der schönsten Tore dieses Turniers erzielte: das Tor zum Finale.
Stolz und Enttäuschung
Dann das Finale - und die Niederlage. "Ich war sehr enttäuscht nach dem Spiel", sagt Moritz Müller heute, so wie er es damals in Tampere auch schon gesagt hat. "Ich hatte das Gefühl, dass wir Weltmeister werden konnten." Zweimal geführt, zweimal zu schnell den Ausgleich kassiert, und dann gegen diese NHL-Truppe aus Kanada im letzten Drittel doch etwas den Faden und das Endspiel mit 2:5 verloren.
"Wir müssen besser werden, damit wir in diesen großen Spielen auch unsere beste Leistung abrufen können", urteilte Nico Sturm. "Wir haben uns unsterblich gemacht", schwelgte Moritz Seider. Und der Bundestrainer? Harold Kreis wusste natürlich auch, dass zwar etwas Historisches geschehen, der ganz große Triumph jedoch ausgeblieben war. "Wir werden in dieser Zusammensetzung nie wieder zusammenspielen", sagte der Bundestrainer, und es klang trauriger, als es wahrscheinlich gemeint war.
Deshalb fügte er gleich hinzu: "Wir haben etwas geleistet, das man auch in die Zukunft projizieren kann." Das klang dann schon wieder nach einem Versprechen auf geschichtsträchtige Eishockeytage bei der nächsten WM in Tschechien.