Jannik Sinner gewinnt Australian Open Der Unscheinbare krönt sich zum König von Melbourne
Im Finale der Australian Open kämpft sich Jannik Sinner in ein verloren geglaubtes Match zurück. Es ist der vorläufige Höhepunkt eines längeren Prozesses.
Es war ein unscheinbarer Moment an einem denkwürdigen Abend. Die rechte Faust auf Kinnhöhe gestreckt, ein Blick zur Box, der ganz ruhige Gang zur Sitzbank. Jannik Sinner war in den ersten 75 Minuten dieses Australian-Open-Endspiels zwar nicht vorgeführt worden, aber doch klar der zweitbeste Spieler gewesen.
Der Kontrast zum erleichterten Applaus des Publikums, das in diesem Moment so klang, als seien die 15.000 Anwesenden einfach froh, nicht weiter einer Abreibung beizuwohnen, und dem anscheinend ganz in sich ruhenden Sinner, er war erstaunlich. Sinner, der nach seinem Halbfinal-Sieg gegen Novak Djokovic als Favorit in sein erstes Grand-Slam-Finale gegen den wesentlich erfahreneren Daniil Medvedev gekommen war, hatte bis zum 3:6, 1:5 keine Chance.
Sein Mantra: "Prozess vor Resultat"
Nun, nach seinem ersten Break des Matches und der kurzen Faust, war Sinner endlich angekommen. Er zeigte, warum seine immer wieder vorgetragene Einstellung "Prozess vor Resultat" eine solche Berechtigung hat. Ruhig bleiben, auf die Aufgabe fokussiert, dann wird es am Ende schon klappen.
Auch in der Pressekonferenz um weit nach 1 Uhr nachts fiel das Wort Prozess immer wieder. Sinner erwähnte seinen ersten Titel auf der ATP Challenger Tour, der zweiten Liga des Tennis, in Bergamo, genauso wie seinen ersten ATP-Titel in Sofia 2020. Wann er sich bereit gefühlt habe, einen Grand Slam zu gewinnen? "Das war im letzten Jahr. Ich startete gut, spielte Halbfinale und Finale in Indian Wells und Miami. Dann das Halbfinale in Wimbledon."
Wechsel von Piatti zu Cahill
Zum Prozess bei Sinner gehört auch, dass er sich Anfang 2022 völlig überraschend von seinem langjährigen Coach Riccardo Piatti trennte. Mit 14 war er in dessen Akademie eingetreten, acht Jahre war Piatti nicht nur Coach, sondern auch väterliche Bezugsperson. Viele konnten sich Sinner nicht ohne Piatti vorstellen, der vielleicht beste italienische Coach der Geschichte mit dem größten Talent des Landes. Die Geschichte war zu schön. Sinner zog weiter, er wollte wachsen.
Erst heuerte er Simone Vagnozzi an, später holte er noch Darren Cahill ins Team. Der Ex-Profi genießt im Tennis einen fast schon kultischen Ruf, weil er seine Schützlinge stets besser macht und nur langfristige Engagements mit Profis annimmt, an die er auch wirklich glaubt. So spielte Cahill eine große Rolle in den Karrieren von Andre Agassi und Simona Halep. Nach dem Finale schwärmte Cahill mit leuchtenden Augen über das Spiel Sinners: "Er ist etwas Besonderes. Der Ball macht ein anderes Geräusch, wenn er aus Janniks Schläger kommt."
Acht von zehn Matches gegen Top-5-Spieler gewonnen
Trotzdem, auch mit Cahill ging es nicht sofort an die Spitze. Lange tat sich Sinner schwer gegen die ganz Großen des Geschäfts. Das Spiel war nicht variabel genug, der Aufschlag noch nicht in der Weltklasse angekommen. Sinner hat an beidem gearbeitet und auch im Finale gegen Medvedev war er am Ende in allen Belangen der bessere Spieler.
Seit dem vergangenen Sommer hat Sinner nach diesem Triumph acht seiner jüngsten zehn Matches gegen Top-5-Spieler gewonnen. Wohl auch, weil er jedes Match als eine Chance zum Lernen begreift. Mit dem Pokal in der Hand erinnerte Sinner bei seiner Siegeransprache daran, dass er gegen Finalgegner Daniil Medvedev schon andere große Endspiele bestritten hatte. Zum Anfang seiner Karriere hatte er sogar sechs Mal am Stück gegen den gewieften Taktiker Medvedev verloren. "Wir haben so viele Finals schon gespielt und jedes Mal habe ich etwas gelernt," stellte Sinner fest.
Auf den Spuren von Federer und Djokovic
Der emotionalste Gruß von Sinner, der sich auch durch diese Siegerehrung auf so leisen Sohlen bewegte, wie er es schon vor diesem großen Triumph in allen Lebenslagen getan hatte, ging an seine Eltern: "Danke an alle, die von zu Hause schauen, speziell meine Familie. Ich wünsche, dass jeder eine Familie wie meine hat. Ich habe verschiedene Sportarten ausprobiert, aber sie haben nie Druck auf mich ausgeübt und diese Freiheit wünsche ich jedem Kind."
Sinner ist das beste Beispiel dafür, wie sehr der Ansatz, mehrere Sportarten auszuprobieren, große Champions hervorbringen kann. Schon Roger Federer und Novak Djokovic hatten so den Weg an die Spitze gefunden. Dass er vorhat, hier zu bleiben, machte Sinner am Sonntag in der Pressekonferenz klar. "Ich bin extrem glücklich, jetzt in dieser Position zu sein. Ich habe ein tolles Team um mich herum, das weiß, was zu tun ist."
Der Unscheinbare hat noch viel vor.