Australian Open Jannik Sinner - Der neue Taktgeber im Tennis?
Jannik Sinner hat spätestens bei den Australian Open gezeigt, dass er zur Tennis-Weltspitze gehört. Ein Grand-Slam-Sieg ist in greifbarer Nähe.
Es gibt wohl kaum etwas Zuverlässigeres auf der Welt als ein Metronom. Ohne Fehler zu machen, gibt das Gerät den Muszierenden einen Takt vor, dem sie folgen können. Diese Aufgabe erfüllt es makellos. Um so erstaunlicher, wenn etwas schiefläuft. Genau das war der Fall am Freitag (26.01.2024), an diesem sonnigen, wenn auch nicht heißen Nachmittag in Melbourne. Denn da gab das Metronom des Tennis, Novak Djokovic, unangekündigt seinen Geist auf.
Der Ausfall des Tennis-Metronoms
Der sportlich alles überragende Serbe war in den vergangenen Jahren nicht nur stets zur Stelle gewesen, wenn es um die großen Siege ging. Auch auf dem Platz schaffte es Djokovic wie wohl kein anderer Spieler je zuvor, Fehler zu minimieren, seinen Gegner zu zwingen, noch einen Ball mehr spielen zu müssen, dabei eigene Zweifel zu verstecken und die seiner Kontrahenten gnadenlos bloßzulegen.
Doch all das endete im Halbfinale der Australian Open, dem Turnier, das Djokovic bisher zehn Mal gewonnen hatte. Nach etwas mehr als drei Stunden war es vorbei mit dem Anlauf auf Titel Nummer elf. Djokovic hatte in vier Sätzen gegen Jannik Sinner verloren, über große Teile des Matches war er chancenlos gewesen.
Djokovic erstmals ohne Breakball
Auch eine gute Stunde nach dem Match war Djokovic noch ratlos, saß in der lila Jacke seines Ausrüsters in der Pressekonferenz, zog immer wieder die Schultern hoch und sprach selbst von einem der schlechtesten Grand-Slam-Matches seiner Karriere. Eine Aussage, die vom Geschehen auf dem Platz unterstützt worden war. Am Ende des zweiten Satzes, kaum mehr als 70 Minuten waren vergangen und 88 Punkte gespielt, standen 29 unerzwungene Fehler auf der Seite des Serben. Eine Zahl die bei Djokovic, gerade in großen Matches, normalerweise erst am Ende einer langen Partie über vier oder fünf Sätze zu verzeichnen ist.
Doch Sinner nahm Djokovic das Spiel aus der Hand. Gerade beim eigenen Aufschlag ließ Sinner gar nichts zu und räumte so im Laufe des Matches eine fast historische Djokovic-Statistik nach der anderen ab. Bisher hatte Djokovic in Melbourne nicht nur 10 Titel in 10 Finalen gewonnen. Auch ein Halbfinale hatte der Weltranglistenerste hier noch nie verloren.
Die letzte Niederlage Djokovics in Melbourne ist 2.195 Tage her, zuletzt verlor er am 22. Januar 2018 gegen den Südkoreaner Hyeon Chung. Bis zum heutigen Tag hatte es in der knapp 19-jährigen Karriere Djokovics kein Grand-Slam-Match gegeben, in dem er sich nicht mindestens einen Breakball erarbeitet hatte. All das kam mit der Niederlage gegen Sinner zu einem Ende.
Djokovic will wieder nach Melbourne
Dementsprechend geknickt gab Djokovic sich in der Pressekonferenz ob der eigenen Leistung: "Ich war geschockt über mein Spiel. Ich habe nicht viel richtig gemacht in den ersten beiden Sätzen." Der mittlerweile 36-Jährige ist sich seines fortgeschrittenen Tennisalters bewusst: "Melbourne ist eine besondere Stadt für mich. Ich hoffe, dass ich noch mal eine Chance habe, zurückzukommen und die Emotionen mitzunehmen."
Wo Djokovic ganz langsam dem Ende seiner Karriere entgegensieht, könnte es für Sinner jetzt erst richtig losgehen. Der Weltranglistenvierte war mit Selbstvertrauen zum ersten Grand Slam des Jahres gereist. Er hatte zwei der jüngsten drei Aufeinandertreffen gegen Djokovic im vergangenen Herbst gewonnen und trat dementsprechend auf: "Ich habe versucht, entspannt zu bleiben, meinen Matchplan genau zu verfolgen. Das hat heute sehr gut geklappt."
Sinner der neue Taktgeber?
Der Südtiroler ist kein geborener Charismatiker. Auf dem Platz gibt sich Sinner, abgesehen von der Faust, die er mittlerweile quasi nach jedem Punktgewinn ballt, sehr nüchtern. Auch sein Jubel nach dem Sieg gegen Djokovic fiel verhalten aus, vor allem im Anbetracht der Bedeutung dieses Sieges. "Ich glaube, dass man diese Emotionen nicht kontrollieren kann. Mir bedeutet es unglaublich viel, Novak besiegt zu haben, aber andererseits ist das Turnier noch nicht vorbei," blickte Sinner auf den größten Sieg seiner Karriere zurück und verzog dabei auch in der Pressekonferenz kaum eine Mine.
Der Finaleinzug ist der vorläufige Höhepunkt einer Karriere, die so gut wie keine Rückschläge kennt, in der Sinner zudem seit Jahren fast mantrahaft den Lernprozess über einzelne Siege und Pleiten stellt. Gewiss, einige bittere Niederlagen bei Grand Slams musste er hinnehmen, gerade auch 2023, wo er bei den French Open völlig überraschend Daniel Altmaier unterlegen war und in der brutalen Schwüle von New York, wo er gegen Alexander Zverev den Kürzeren bei den US Open zog.
Doch setzte sich Sinner in den letzten zwölf Monaten eben auch in der Weltranglistenspitze fest. Die Ruhe seines Gemüts findet sich mittlerweile auch in seinem sicheren Spiel wieder. So schickt sich Sinner am Sonntag an, seinen Premierentitel bei einem der vier Turnierhöhepunkte des Tennisjahres zu feiern. Wenn alles läuft wie geplant, könnte er alsbald sogar der neuen Taktgeber im Herrentennis werden. Wenn vielleicht auch eher einer der leisen Sorte.