Zum Karriereende von Kevin-Prince Boateng Ein Königreich für diesen Prinzen

Stand: 13.08.2023 08:42 Uhr

Er startete als Ausnahmetalent, stolperte in eine Rüpelfalle und rettete anschließend nicht nur seine Karriere, sondern ein bisschen auch den Fußball. Auch, weil Kevin-Prince Boateng mehr konnte als nur kicken. Von Ilja Behnisch

Lieber Kevin-Prince Boateng,
 
überlegen Sie es sich doch nochmal! Das mit dem Karriere-Ende. Nicht, weil ich Ihnen so gern beim Fußballspielen zugeschaut habe. Wobei, das schon auch. Hat man ja auch im hässlichsten Herthaner Abstiegskampf noch gesehen, dass der Ball weiterhin tat, was sie wollten. Dass er noch immer ihr Freund war und nach einer Begegnung mit Ihnen nahezu über den Rasen schwebte vor Glück.
 
Viel schlimmer aber, als dass ich Sie fortan nicht mehr in kurzen Hosen über das Spielfeld breitbeinen werde sehen können, finde ich, dass all diese wunderbaren Geschichten ausbleiben werden. Und um die geht es doch im Fußball. Es ist, wie Gabriel Garcia Marquez eines seiner Bücher nannte: Leben um davon zu erzählen.

Kevin-Prince Boateng (imago images/Moritz Müller)
Kevin-Prince Boateng verkündet Karriereende

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Großer Erzähler, großes Schauspiel

Sie sind ein grandioser Erzähler. Waren es schon immer. Schon als "Ghetto Kid aus dem Wedding" (Stern 2007), der zugleich Groß-Neffe von "Boss" Helmut Rahn sei. Fußball-Profi oder Gangster, das war es, was das Leben für Sie bereit hielt, sagten Sie einmal. Logo, weil: Gewachsen auf Beton, wie die Werbung später einmal auf eine Häuserwand im Wedding über Sie und Ihre Brüder malen sollte. Der Wedding, der früher rot war und marschierte, der aber längst einfach nur zum Problembezirk geworden war, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung. Und in Ihren Erzählungen. Der Fußball als Ausweg. Seit dem sechsten Lebensjahr bei Hertha BSC, wenn auch mit Unterbrechung. Aber auch Sport-Gymnasium in Charlottenburg und vor allem: Fußball. In der Schule, beim Training, auf dem Bolzplatz.

In einer Doku über Sie und Ihre damaligen Mitspieler sitzen Sie für die Interview-Passagen auf einer Art Thron. Der Oberkörper angriffslustig nach vorn gebeugt, der Nacken spielt wie vor einem Kampf hin und her. Was für ein Schauspiel. Und da haben Sie noch kein Wort gesagt.

Sie wissen, wie man Zeichen setzt, wie Gesten funktionieren und Storytelling. Und Sie haben die verdammte Chuzpe, ohne sichtbaren Zweifel den Raum einzunehmen, den es braucht, um zu wirken. Um größer zu wirken als man eigentlich ist. Weil: auch nur ein Mensch. Sie, der "Prince". Einfach nur: "Prince". Dass das allein schon reicht, damit jeder in Fußball-Deutschland weiß, von wem die Rede ist. Wahnsinn. Aber sie haben ja auch geliefert. Haben als Jung-Profi ihr Bad Boy-Image untermauert mit vermeintlichen und weniger vermeintlichen, nächtlichen Eskapaden. Sie haben einen Shitstorm überlebt, der einem Jahrhundert-Unwetter gleichkam. 2010, als sie kurz vor der WM in Südafrika Deutschlands Kapitän und Turnier-Hoffnung Michael Ballack durch ein Foul so schwer verletzten, dass dieser die Weltmeisterschaft noch verpasste.

Vom Flegel zum Weltbürger

Sie haben den Moonwalk getanzt [youtube.com], nachdem Sie mit dem AC Mailand die italienische Meisterschaft holten (2011). Komplett im Michael-Jackson-Outfit und im brodelnden Mailänder San Siro. Sie haben eine Rede vor den Vereinten Nationen gehalten, nachdem Sie rassistische Ausfälle in italienischen Stadien nicht mehr länger hinnehmen wollten. Nachdem Sie sich mitten in einem Spiel den Ball genommen haben, um ihn auf die Tribüne zu schlagen, dorthin, von wo die Affenlaute kamen. Dann sind sie vom Platz gegangen (2013). Ihre Mannschaft folgte. Sie haben Dortmund (2009) als "die letzte Chance" Ihres Lebens und Mailand als "die Chance" Ihres Lebens bezeichnet.
 
Sie lebten ihre Karriere, als würden Sie jeden Morgen in Pathos baden und es wäre immer der Duft der Saison. Sie sind sensationell Pokalsieger geworden mit der Frankfurter Eintracht (2018), weil Ante Rebic "Schlag den Ball lang, Bruder" zu Ihnen sagte vor dem Spiel und Sie den Ball lang schlugen. Sie kamen zurück zur Hertha, weil Sie "ihrem Verein" etwas „zurückgeben wollten“. Sie haben die Aufstellung gemacht vor dem aus Herthaner Sicht erfolgreichen Relegations-Rückspiel in Hamburg 2022. Und Sie treten ab, nicht irgendwie, sondern mit einem Gänsehaut-Video und markigen Sprüchen. Ihre größter Gegner? Natürlich, Sie selbst. Ganz nebenbei ist über die Jahre aus einem, der für so manchen Beobachter zu Beginn der Dinge einfach nur ein Flegel war, ein Weltbürger geworden.

Das Boris-Becker-Phänomen

Sie waren und sind Ihr eigener, fortlaufender Werbefilm. Schon immer gewesen. Zum Glück. Man möchte nicht alles unterschreiben, was Sie so gesagt und getan haben, aber für alles danken. Weil es unterhaltsam war. Und weil man immer das Gefühl hatte, dass Sie alles genau so meinen. Selbst dann, wenn er nur eine Rolle spielt. Vielleicht, vielleicht sind Sie vor allem damit irgendwie auch wie Berlin an sich.

Und dann gibt es ja noch das, was ich das Boris-Becker-Problem nenne. Man kann etwas, so gut wie nur wenige andere Menschen auf der Welt. Und dann, irgendwann mit Mitte 30 — Karriereende. Aus und vorbei. Und was dann? Wenn noch so viel Leben vor einem liegt und man aber weiß, dass man nie wieder etwas so gut können wird, Und vielleicht ist das der Trost, lieber Kevin Prince Boateng. Dass sie ein grandioser Kicker waren. Aber ein noch größerer Erzähler.

Sendung: rbb24, 13.08.2023, 18 Uhr