NDR-Sport Straßenfußball-EM der Wohnungslosen in Hamburg: "Einmal im Mittelpunkt"
Im Schatten der Fußball-Europameisterschaft findet in Hamburg in dieser Woche die "Homeless Euro 2024" statt, die Straßenfußball-EM der Wohnungslosen. Für viele ist das Turnier eine Abwechslung vom Alltag - und eine Möglichkeit, auf ihre Lebensumstände aufmerksam zu machen.
Für Mario La Torre ist es ganz klar: "Der Fußball hat mir eine zweite Chance gegeben." Jahre der Kriminalität und des Drogenkonsums in den Straßen von Schwedens Hauptstadt Stockholm liegen hinter ihm, erzählt der 24-Jährige. Doch er habe sein Leben verändert - und der Sport, der Fußball, haben ihm dabei geholfen: "Schau mich an. Jetzt schieße ich Bälle, vorher habe ich andere Dinge geschossen."
Acht Nationen bei der "Homeless Euro"
La Torre ist einer der Teilnehmer des schwedischen Teams bei der am Montag in Hamburg gestarteten "Homeless Euro 2024", der Europameisterschaft für Wohnungslose, die in der Arena der Fanzone auf dem Heiligengeistfeld ausgetragen wird. Insgesamt acht Nationen treten bei dem Turnier an, das bis Freitag stattfindet (21. Juni): Neben Schweden und Gastgeber Deutschland sind Litauen, Italien, Ungarn, Polen, Rumänien und Belgien dabei.
In Anlehnung an die beim "Homeless World Cup" geltenden Straßenfußball-Regeln wird fünf gegen fünf in einem 18 mal 30 Meter großen Feld gespielt. Noch bis Donnerstag finden zwischen 16 und 19 Uhr die Vorrunden-Partien statt. Die Finalspiele sind am Freitag von 13 bis 17 Uhr angesetzt.
"Die meisten leben vor Ort in sehr, sehr schwierigen Lebenssituationen, leben auf der Straße, haben vielleicht auch eine Suchterkrankung."
— Turnier-Organisator Johan Graßhoff
Bianca Koch, Spitzname "Bibi", ist die einzige Frau im deutschen Team. Sie war im vergangenen Jahr bereits bei der deutschen Straßenfußball-Meisterschaft der Wohnungslosen dabei und hat für Deutschland sogar an der WM der Wohnungslosen in Sacramento, im US-Bundesstaat Kalifornien, teilgenommen. "Es macht einen stolz", sagt sie: "Mit vielen Nationen zusammen zu sein, ist einfach der Hammer. Die Atmosphäre ist mega." Und, vielleicht das Wichtigste aus ihrer Sicht: "Es stärkt das Selbstbewusstsein."
Das sei - neben der Ablenkung vom Alltag - eines der Hauptziele, erklärt Johan Graßhoff, einer der Turnier-Organisatoren: "Die meisten leben vor Ort in sehr, sehr schwierigen Lebenssituationen, leben auf der Straße, haben vielleicht auch eine Suchterkrankung."
Knapp 900.000 Menschen waren Angaben des Bundesministeriums für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (BMWSB) zufolge im Jahr 2023 in Europa ohne Wohnung. Das BMWSB bezieht sich auf Zahlen des europäischen Dachverbands der Wohnungslosenhilfe (FEANTSA) und der Abbé Pierre Stiftung.
Rund 100 Ehrenamtliche helfen
Mit dem Turnier wolle man den Betroffenen daher auch "zeigen: 'Ihr seid wichtig, ihr seid hier mal im Mittelpunkt, auch wenn ihr normalerweise am Rande der Gesellschaft steht'", sagt Graßhoff. Und so wehte zumindest ein kleiner Hauch von Olympia-Eröffnung am Montag durch Hamburg, als die acht Mannschaften in Trikots gekleidet, mit Fahnen und Bannern in den Händen an der Gegengerade des Millerntor-Stadions von Fußball-Bundesligist FC St. Pauli zum Platz zogen.
Der Club ist einer der Unterstützer des Projekts des Vereins "Anstoß e.V.", stattete die Spielerinnen und Spieler unter anderem mit Sportbeuteln aus. Etwa 100 Ehrenamtliche sind rund um die "Homeless Euro" herum im Einsatz - aus der Wohnungshilfe zum Beispiel, aber auch obdachlose Lotsinnen und Lotsen der Straßenzeitung Hinz&Kunzt, die nun die Teams aus den acht Nationen in Hamburg betreuen.
"Das ist wie meine zweite Familie."
— Patryk Bialek, Spieler Polens
Eine der Helferinnen ist Berit Körber von der Obdachlosenhilfe. Sie freut sich über "die positive Stimmung und die Abwesenheit von Resignation". Denn auch darum geht es: um Hoffnung - und darum, sich Wege aufzuzeigen, sich auszutauschen und von den Erfahrungen anderer zu profitieren. So sind neben den Spielen verschiedene Workshops und Veranstaltungen geplant - thematische Podiumsdiskussionen, Filmabende und Ausflüge.
Patryk Bialek sagt: "Das ist wie meine zweite Familie." Acht Jahre lang habe er Drogen genommen und unter einer Brücke geschlafen, bevor er sich in eine Reha begab und anfing, sein Leben neu aufzubauen, berichtet der 24 Jahre alte Spieler des polnischen Teams.
Graßhoff: "Spaß haben und Kraft für die Zukunft sammeln"
Auf diesem langen Weg hat ihm auch seine "Kindheitsliebe" Fußball geholfen. "Ich kann nicht glauben, dass ich wieder spiele - und zwar hier!", sagt er einen Tag, nachdem auch die polnische Nationalmannschaft in Hamburg gespielt hatte (1:2 gegen die Niederlande).
Graßhoff, der Straßensozialarbeiter in Hamburg, aber auch Bundestrainer der deutschen Straßenfußballer ist, betont, wie wichtig es sei, das Thema Obdachlosigkeit denjenigen vor Augen zu führen, die es nicht verstehen. Denn auch dazu diene das Turnier im Rahmen des Glitzers und Glamours der EM: "Die Leute sagen oft, es sei ihre eigene Schuld, wenn Menschen obdachlos sind, aber das stimmt nicht. Der Hauptgrund dafür sind der Mangel an Wohnraum und die hohen Mietkosten. Wir wollen die Gesellschaft darauf aufmerksam machen."
Und für ein paar Tage einen Rahmen schaffen, in dem La Torre, Koch, Bialek und "alle Spieler ihre Probleme vergessen, Spaß haben und Kraft für die Zukunft sammeln" können.
Dieses Thema im Programm:
Hamburg Journal | 17.06.2024 | 19:30 Uhr