Fußball | Historie Ein letztes Mal Ernst-Grube-Stadion: Fußballfest für Fans aus nah und fern
Seit Jahren ist das Ernst-Grube-Stadion in Riesa sich selbst überlassen und verfällt zunehmend. Nun fand in der "Grube" tatsächlich nochmal ein Spiel statt. Möglich wurde das durch die kühne Idee eines Sachsen.
Unkraut soweit das Auge reicht, Risse im Beton der Haupttribüne, die Arena von der Stadt längst aufgegeben. Dort, wo die BSG Stahl Riesa zu DDR-Zeiten teils vor über 10.000 Zuschauern um Punkte gekämpft hat, war bis vor einiger Zeit nichts als eine Brachlandschaft zurückgeblieben. Dass das Ernst-Grube-Stadion für ein Fußballspiel noch einmal seine Pforten öffnen sollte, schien für die Allermeisten völlig undenkbar.
Allen Hürden zum Trotz hat an Ort und Stelle am Samstag (08. Juni 2024) vor 999 Zuschauern nun ein denkwürdiges letztes Spiel stattgefunden, das Nostalgiker aus ganz Deutschland und selbst über die Grenzen der Republik hinaus angezogen hat. Auf dem Rasen begegneten sich dabei der nahe Riesa beheimatete SV Stauchitz und der PSV Braunschweig. Das Ergebnis der Partie war allerdings nicht mehr als eine Randnotiz – im Fokus stand die Freude über 90 Minuten Fußball an einem längst verloren geglaubten Ort.
Eine Meeraner und seine Vision
Dass das Spektakel überhaupt möglich wurde, ist zu einem großen Teil Jan Massarczyk zu verdanken. Der im sächsischen Meerane beheimatete Fußball-Fanatiker gründete vor einigen Jahren die Initiative "Lost Ground Hop" – mit dem Ziel, Spiele auf nicht mehr bespielten oder stillgelegten Plätzen auszutragen. Massarczyks Schaffen findet vor allem bei Groundhoppern, also Fußballfans mit einer Leidenschaft für das Sammeln von diversen Stadionbesuchen, großen Anklang. Mehrere etwaiger Partien hat er bereits realisiert, Riesa markiert nun sein nächstes Meisterstück.
Über die Jahre haben Natur und Wetterbedingungen dem Stadion zugesetzt.
Geschafft hat Massarczyk das nicht zuletzt aufgrund der großen Bereitschaft zahlreicher Mitstreiter. Der SV Stauchitz zum Beispiel stemmte als Heimverein am Spieltag mit über 40 Personen das gesamte Catering sowie den Ordnungsdienst. Auch die Stadt Riesa um Bürgermeister Marco Müller, der der Idee von Beginn an offen gegenübergestanden hatte, sowie Gastverein PSV Braunschweig spielten bei der Umsetzung eine zentrale Rolle. "Ich tue das eher aus idealistischen Gründen. Mir geht es darum, das mit einem lokalen Verein zu machen, der Lust darauf hat. Der SV Stauchitz war da sehr engagiert", sagt Jan Massarczyk dazu im Interview mit SPORT IM OSTEN.
Zunächst aber mussten in unzähligen Arbeitsstunden erst einmal der völlig verwilderte Rasenplatz sowie Teile der mit Unkraut bewachsenen Tribünen von Freiwilligen für den großen Tag frisch gemacht werden. Ein Unterstützer steuerte dabei mithilfe zweier LKW mal eben 100 Tonnen Mutterboden bei, mit der ein Traktor daraufhin die Spielfläche ebnen konnte. Massarczyk: "Das finde ich nach wie vor riesig, dass in so einer Situation Leute auf einen zukommen und sagen: Das kriegen wir mal nebenbei hin".
An allen Seiten reihten sich die Zuschauer um das Spielfeld des Ernst-Grube-Stadions.
Ein Spieltag – unzählige leuchtende Augen
Mit dem Spiel fand die Hauruck-Aktion schließlich ihren krönenden Höhepunkt. Aus allen Himmelsrichtungen pilgerten Fußball-Liebhaber zum Anpfiff um 11 Uhr vormittags nach Riesa, das aus Sicherheitsgründen auf 999 Zuschauer begrenzte Ticketkontingent war bereits Wochen vor dem eigentlichen Anpfiff restlos ausverkauft gewesen. Neben vielen Fans aus allen Teilen Deutschlands sollen nach Aussage von Jan Massarczyk auch mehrere Österreicher, Tschechen sowie Niederländer – und sogar eine kleine Delegation aus Estland den Weg auf sich genommen haben.
Vor Ort erfreuten sich die reiselustigen Groundhopper und Schaulustigen an jeder Menge Fußballgeschichte. Die stark vom Rost bearbeitete Haupttribüne des 1955 eingeweihten Stadions war zwar aufgrund von Einsturzgefahr nicht mehr begehbar, wurde dafür aber aus fast allen erdenklichen Lagen durch die Linse unzähliger Fotoapparate eingefangen. Auch die altehrwürdige Anzeigetafel und die eigens für das Spiel wieder aufgefrischten Kassenhäuschen standen nur allzu oft im Fokus. Auf dem stellenweise abenteuerlichen "Grün" gab es dazu einen 6:2 (1:1)-Sieg der gastgebenden Stauchitzer gegen am Ende müde Braunschweiger zu sehen.
Die alte Anzeigetafel war am sommerlichen Spieltag ein gern genutzter Schattenspender.
Ob das Event nochmal einen zweiten Frühling für das Ernst-Grube-Stadion bewirken kann, daran glaubt Jan Massarczyk kaum: "Das ist immer die Glaskugelfrage, ob sich nochmal etwas verändert. Klar hat man immer die Hoffnung. Vielleicht wird ja mal drüber diskutiert und jemand hat eine Idee". Allein finanziell dürfte eine Sanierung für die Stadt Riesa schwer zu stemmen werden. Was bleibt, ist dafür ein mehr als würdiger letzter Tanz in einer fast vergessenen Perle des DDR-Fußballs.
Paul Titze