Vereine verbannen Datenscouts Weniger deutsche Amateurspiele auf dem Wettmarkt
BR-Recherchen zeigen Wirkung: Zahlreiche Vereine in Deutschland verbannen Datenscouts der Wettindustrie. Deshalb landen weniger Amateurfußballspiele auf dem Wettmarkt. Sogar ein DFB-Sponsor zieht Konsequenzen.
Bayernliga Süd, 9. Spieltag. Ein Mann sitzt auf der Haupttribüne des TSV Rain beim Spiel gegen die SpVgg Unterhaching II. Er tippt fast ununterbrochen auf sein Handy. Abwechselnd schaut er auf das Spielfeld und dann auf das Smartphone in seiner Hand. Die Vereinsverantwortlichen vom TSV Rain haben einen Verdacht: Das muss ein Datenscout sein.
Kurz darauf stellen sie den Mann gemeinsam mit der Polizei. Der Fünftligist macht von seinem Hausrecht Gebrauch – der Datenscout muss das Stadion verlassen. Ähnliche Szenen haben sich in den vergangenen Wochen bei zahlreichen Regionalliga-, Oberliga- und Verbandsligaspielen in vielen Teilen Deutschland abgespielt.
Vereine reagieren auf ARD-Dokumentation
Im August hatten Recherchen des BR in der ARD Story "Angriff auf den Amateurfußball – Die Gier der Wettindustrie" enthüllt, dass Datenscouts wie in Rain hierzulande Live-Wetten auf Amateurfußballspiele unterhalb der 3. Liga ermöglichen. Sie übertragen mit Smartphones oder Headsets die Geschehnisse auf dem Platz – diese Informationen landen wiederum bei internationalen Wettanbietern.
Seit der Veröffentlichung sind solche Live-Wettangebote auf deutsche Amateurspiele auf dem internationalen Wettmarkt offenbar stark zurückgegangen, in Deutschland sind solche Wetten ohnehin verboten. Jetzt haben viele Amateurvereine das Datensammeln für Sportwetten verboten.
Sportradar schickt kaum noch Datensammler
Ein großes Unternehmen, das Live-Daten von Sportereignissen an Wettanbieter verkauft, ist der Schweizer Tech-Konzern Sportradar. Eine neue Auswertung von BR Data deutet darauf hin, dass die Zahl der Sportradar-Datenscouts in der Regional- und Oberliga zuletzt deutlich abgenommen hat. Während im August deutschlandweit bei insgesamt 140 Regionalliga-Partien Sportradar-Datenscouts vor Ort waren, sind es an den Spieltagen im Oktober bislang offenbar nur 26 Begegnungen gewesen.
Für die Oberligen ergibt sich ein ähnliches Bild: Im August haben Sportradar-Datenscouts in ganz Deutschland von 175 Oberliga-Spielen Live-Daten übermittelt, im Oktober war dies laut BR-Auswertung bisher überhaupt nicht der Fall. Sportradar reagierte nicht auf eine Anfrage.
In der vergangenen Saison hatte Sportradar zu insgesamt 2.700 deutschen Amateurfußballspielen Datenscouts geschickt – vor allem in der Regional- und Oberliga. Unter anderem bei Bayernliga-Spielen des Kirchheimer SC waren mehrfach Datenscouts im Auftrag von Sportradar. Der Amateurclub aus der Nähe von München hatte in der ARD-Dokumentation die Datenscouts enttarnt und das Datensammeln auf seinem Gelände untersagt.
Bayernliga: Keine Sportradar-Datenscouts mehr
Viele andere Clubs haben es wie die Kirchheimer gemacht und verbannen mittlerweile Datenscouts von ihrem Sportgelände. "Es freut uns, dass wir etwas bewegen konnten", sagt Ludwig Boche, Vorstand beim Kirchheimer SC. Viele Clubs hätten sich bei dem Verein gemeldet, um sich über Handlungsmöglichkeiten und ein Verbotsschild für Datenscouts auszutauschen.
Häufig war es Thomas Melchior, der nach den BR-Recherchen dutzende Amateurvereine darauf hinwies, dass ihre Spiele live auf Wettportalen angeboten wurden. Melchior war selbst wettsüchtig und kämpft heute als Aktivist gegen die Sportwettenindustrie.
Staatsanwaltschaft ermittelt
In mehreren Fällen haben Amateurvereine wegen ertappter Datenscouts die Polizei eingeschaltet, so wie beim Spiel des TSV Rain gegen SpVgg Unterhaching II. Dort ermittelte die Polizei, konnte aber letztlich keine Straftat feststellen.
Aktuell läuft bei der Staatsanwaltschaft Baden-Baden noch ein Ermittlungsverfahren gegen einen Datenscout wegen des Verdachts der Beihilfe zum unerlaubten Glücksspiel. Anfang Oktober wurde ein ähnliches Verfahren bei der Staatsanwaltschaft Potsdam eingestellt.
Akkreditierungsanfrage mit falschen Namen
Kurios: In Baden-Württemberg wollten sich zwei Datenscouts für ein Heimspiel des Oberligisten FSV Bietigheim-Bissingen akkreditieren. Die Männer gaben dafür die Namen eines verstorbenen baskischen Rennradprofis sowie eines bulgarischen DJs an. Der Verein informierte daraufhin die Polizei.
Beide Männer nannten in ihrer Akkreditierungsanfrage die Firma Real Time Sportscast (RTS) als Auftraggeber. Das Unternehmen gehört zur Sportradar-Gruppe. Eine BR-Anfrage zu dem Vorfall beantworteten Sportradar und RTS nicht.
Neben Sportradar sind in Deutschland nach BR-Informationen weitere Sportdatenunternehmen wie Stats Perform, IMG Arena und Genius Sports als Dienstleister für Live-Sportdaten aktiv. Auf eine Anfrage, zu welchen deutschen Ligen sie Datenscouts entsenden, antwortete keines der drei Unternehmen.
Bei Genius Sports handelt es sich um den offiziellen "Integrity Partner" des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). Seit 2019 ist die britische Firma vom DFB beauftragt, den internationalen Wettmarkt zu überwachen, um mögliche Spielmanipulation in deutschen Amateurligen aufzudecken. Genius Sports ließ über einen Zeitraum von mehreren Monaten BR-Anfragen mehrfach unbeantwortet.
DFB-Sponsor nimmt Amateurspiele aus Angebot
DFB und Landesverbände geben auf Anfrage an, dass Vereine von ihrem Hausrecht Gebrauch machen können. Außerdem teilt der DFB mit, dass sein Sponsoring-Partner Interwetten auf seinen internationalen Plattformen mittlerweile keine Wetten mehr auf deutsche Amateurfußballspiele anbiete. Der DFB begrüße diese Entscheidung und lobt das "Verantwortungsbewusstsein" des Wettanbieters.
Im Mai hatte DFB-Vizepräsident Ronny Zimmermann im BR-Interview noch kein Problem darin gesehen, dass Interwetten auf ausländischen Wettmärkten deutsche Amateurfußballspiele anbietet.
BR-Recherchen im Sportausschuss
Anfang Oktober hat sich auch der Sportausschuss im Deutschen Bundestag mit den BR-Recherchen beschäftigt. Ausschussmitglied Stephan Mayer (CSU) fordert im Interview eine "Harmonisierung des Sportwetten-Rechts". Es solle europaweit verboten werden, auf Amateur- und Jugendspiele zu wetten. Zudem wünscht sich der CSU-Abgeordnete mehr Initiative vom DFB, da die Manipulationsgefahr in den unteren Ligen weitaus größer sei als im Profifußball.
Philip Krämer, Grünen-Abgeordneter und stellvertretender Vorsitzender des Sportausschusses, kritisiert, dass Wettanbieter, die hierzulande verbotene Wetten auf Amateurspiele im Ausland anbieten, dennoch eine staatliche Lizenz in Deutschland haben. "Da müssen wir nochmal an den Glücksspielstaatsvertrag ran", sagt Krämer und spricht sich für mehr Regulierung aus.
Nicht nur Fußball betroffen
Sportwetten und Datenscouts sorgen inzwischen auch in anderen Sportarten für Aufregung. Bei einem Spiel der Zweitliga-Basketballerinnen des ETV Hamburg hat der Verein nach eigenen Angaben ebenfalls einen Datenscout in der Halle enttarnt. Bastian Wernthaler, Präsident des Bayerischen Basketball-Verbandes, findet es "erschreckend", dass auf diese Spielklassen gewettet wird. Auch dort sind Sportwetten in Deutschland verboten.
Die Damen-Basketball-Bundesliga antwortet auf BR-Anfrage, die Liga arbeite daran, "das Bewusstsein für die Risiken illegaler Wetten zu schärfen". Wie im Fußball verweist der Verband auf das Hausrecht: Die Vereine sollen Datenscouts selbst aus ihren Hallen verweisen.
Die ARD-Story "Angriff auf den Amateurfußball - Die Gier der Wettindustrie" zeigt einen Einblick in das Geschäft zwischen Wettanbietern und Sportdatenhändlern. Wie gelangen deutsche Amateurspiele in Echtzeit auf den globalen Wettmarkt? Was machen DFB und Glücksspielbehörde dagegen? Die Doku ist in der ARD Mediathek zu sehen.
Hilfe und Beratung zum Thema Spielsucht für Betroffene und Angehörige gibt es hier:
Check dein Spiel – kostenlose anonyme Hilfe [externer Link]
BZgA-Telefonberatung zur Glücksspielsucht: 0800/137 2700
Hilfe zur Selbsthilfe: Anonyme Spieler [externer Link]
Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen und Fachkliniken in der Umgebung finden: Fachverband Glücksspielsucht [externer Link]
Kostenlose Experten-Hotline des Fachverbands Glücksspielsucht: 0800/077 6611
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Quelle: BR24 im Radio 25.10.2024 - 06:00 Uhr