Tour de France Sturz

Künftig auch bei der Tour? KI im Radsport - Sturzvermeidung durch Datenanalyse

Stand: 20.06.2024 07:02 Uhr

Ein Forschungsteam der Universität Gent wertet mit Hilfe von künstlicher Intelligenz Accounts von X, ehemals Twitter, aus, um Sturzursachen im Straßenradsport zu erforschen und Sturzrisiken zu reduzieren.

"Gelbes Trikot am Boden" – diese Nachricht gehört leider zur Tour de France wie Massen von Fans an der Strecke und Champagner auf dem Podium. Keine Tour ohne Stürze. Und in den letzten Jahren nahmen auch die Stürze von Favoriten während der Tour und erst recht im Vorfeld des Rennens zu.

Dagegen will Steven Verstockt vorgehen. Er ist Radsport-Liebhaber und Informatikprofessor an der Universität Gent. Seine Leidenschaft und sein berufliches Wissen bündelt er seit einigen Jahren im Forschungsprojekt Course. Das will mit Hilfe von künstlicher Intelligenz mehr Wissen über Stürze und potentielle Gefahrenquellen generieren und so den Radsport sicherer machen.

Die erste umfassende Sturzstatistik im Straßenradsport überhaupt ist Teil von Course wie auch die Verknüpfung von Video- und Kartendaten mit Erkenntnissen aus früheren Stürzen, um potentiell gefährliche Stellen auf Rennstrecken zu identifizieren. Und sogar die Auswertung von Massensprints hinsichtlich des Einhaltens einer geraden Fahr-Linie ließe ich durch KI bewerkstelligen, ist Verstockt im Gespräch mit der Sportschau überzeugt.

Initialmoment: Jakobsens Horrosturz 2020

Ausschlaggebend für ihn war der schreckliche Sturz von Fabio Jakobsen bei der Polenrundfahrt 2020. "Wir arbeiteten damals schon an der Auswertung von Geodaten. Ich kontaktierte dann die UCI und fragte sie: Warum macht ihr für die Sicherheit der Fahrer nicht mehr mit Datenanalyse? Wir schlossen dann bald eine erste Vereinbarung über eine Datenbank über Stürze. Und ich war auch ein bisschen überrascht, dass sie keinen richtigen Überblick über Stürze in der Vergangenheit hatten", blickt Verstockt zurück.

Seit diesem Zeitpunkt sammelt er Informationen. Er gewinnt sie vor allem durch das maschinelle Auslesen von Twitter-Accounts – heute X.

"Wir wählten die Accounts danach aus, wer am meisten über die letzten 200 Stürze gepostet hat. Aktuell sammeln wir Daten von etwa 250 Accounts ein. Wir können diese Basis aber auch schnell vergrößern", erklärt Verstockt. Die Textdaten und auch das Videomaterial wird aufbereitet und fließt in die Sturzstatistik ein.

Sport der 1000 Stürze

Mehr als 1000 Stürze sind darin bereits aufgeführt und beschrieben. Daraus lassen sich interessante Erkenntnisse herauslesen. In einer 2022 veröffentlichten Auswertung der Stürze zwischen den Jahren 2016 und 2022 ereignete sich das Gros der Stürze auf den letzten 25 km einer Etappe oder eines Eintagesrennens.

Häufigste Sturzauslöser waren Wechsel des Fahrbahnbelags sowie Zonen unmittelbar vor Sprints oder Anstiegen. Erst danach kamen - in abnehmender Reihenfolge - Abfahrten, Fahrfehler von Profis, schlechte Straßen, Verkehrsinfrastruktur, nasse Straßen oder Autos. Überraschend weit hinten in der Rangliste sind Stürze, die durch Zuschauer verursacht wurden. Allerdings flossen in diese Statistik auch nur Daten bis 2022 ein. Das berüchtigt gewordene "Omi-Opi-Plakat", das bei der Tour de France 2021 einen Massensturz auslöste, dürfte aber darin enthalten sein.

Streckenscreening mit KI

Was kann man mit all diesen Daten anfangen? "Teil unserer Zusammenarbeit mit der UCI ist ein Screening von Rennstrecken. Wir können die Daten aus der Vergangenheit nutzen, auf gefährliche Punkte hinzuweisen, zum Beispiel auf die Verbindung von Abfahrten, bei denen die Fahrer mit hoher Geschwindigkeit herunterkommen, mit Wechseln des Fahrbahnbelags", sagt Verstockt.

Das ist technologisch noch ambitionierter. Denn Videomaterial der Strecken wird mit Geodaten von Open Street Map verknüpft. Und auch Informationen über Stürze aus der Vergangenheit fließen ein. Für einige Rennveranstalter hat das Team um Verstockt solche Analysen bereits vorgenommen. Der Forscher nennt die Tour de Romandie, die Polen-Rundfahrt, Eneco Tour und die Lombardei-Rundfahrt. Die Grand Tours waren bislang noch nicht dabei. Arbeiten dort vor allem Traditionalisten, die dem menschlichen Auge und der Erfahrung der Streckenplaner, die meist ehemalige Profis sind, mehr vertrauen als der Technik?

"Manche sagen, sie wissen das ohnehin schon alles. Aber wenn man sich dann die Rennen im Fernsehen anschaut, trifft man immer noch auf Segmente, vor denen wir mit unserer Software gewarnt hätten", meint Verstockt. Er sieht die Branche aber auch im Wandel, offen für technologische Entwicklungen. "Mit manchen Organisatoren arbeiten wir auch schon gut zusammen. Andere unternehmen selbst ähnliche Anstrengungen", beobachtet er.

Die schöne Datenbasis hat aber auch Lücken. "Wir erfassen maschinell schließlich nur Daten von Stürzen, über die bei social media gepostet wurde", schränkt Verstockt selbst ein. Allerdings werde die Statistik inzwischen auch manuell von der UCI ergänzt, versichert er. Zu hoffen ist, dass die Daten getriebene Vorsorge in Zukunft zu einem geringeren Wachstum der Sturzstatistik führt. Denn Bilder vom Mann in Gelb auf der Straße - wie zuletzt im Falle von Remco Evenepoel bei der Dauphiné - will man nicht sehen. Natürlich auch nicht von Fahrern in andersfarbigen Leibchen.