Radklassiker Mailand-Sanremo Von wegen Wettkampfhärte - nur der Sieg zählt für van der Poel
Mathieu van der Poel will am Samstag zum Saisoneinstand seinen Titel beim Radsportklassiker Mailand-Sanremo verteidigen. Das ist gegen die Tradition. Denn die fordert eigentlich Vorbereitungsrennen zum Erlangen von Wettkampfhärte.
Van der Poels härtester Rivale Tadej Pogacar hat ihm das Siegen gleich zum Einstand aber bereits vorgemacht. Der Slowene gewann bei seinem ersten Wettkampf das Schotterrennen Strade Bianche dank einer 81-km-Soloflucht.
Peilt Pogacar nun eine Ausreißserie an? Siegt van der Poel gleich doppelt, gegen die Konkurrenz und gegen die Tradition? Gibt es einen lachenden Dritten? Ausblick auf das vom Profil her leichteste Klassikerrennen, das wegen der vielen Variablen aber am schwersten zu gewinnen ist.
Mailand-Sanremo auf unter 300 km verkürzt
Der Straßenradsport ist im Umbruch. Nicht einmal die Organisatoren halten sich an alte Regeln. Schon zum zweiten Mal hintereinander startet Mailand-Sanremo nicht in Mailand. Nach Abbiategrasso im vergangenen Jahr geht es am Samstag in Pavia los.
Ursache sind die Verkehrseinschränkungen, die die Metropole wegen des Radrennens belasten. Auch die 100.000 Euro, die italienischen Medien zufolge die Stadtväter von Pavia dem Rennausrichter RCS gegeben haben, dürften eine Rolle gespielt haben.
Viel an der Strecke ändert sich allerdings nicht. Nur der Anlauf ist verkürzt. Schlüsselstellen wie Capo Berta, Cipressa und natürlich der Poggio, der letzte Anstieg vor dem Ziel auf der Uferpromenade in Sanremo, sind weiter im Programm.
Cipressa ist der logische Angriffspunkt
Dass sich dort kein bisschen verändert hat, davon überzeugte sich Mathieu van der Poel auch selbst vor ein paar Tagen. Er verließ sein Trainingslager in Spanien, um auf den letzten beiden Anstiegen noch einmal jeden Meter zu inspizieren. Besonders dem Cipressa, dem vorletzten Berg, galt sein Augenmerk.
Er liegt "nur" 22 Kilometer vom Zielstrich in Sanremo entfernt. In Pogacars Normbereich für einen Soloritt würde sich auch Capo Berta befinden, knapp 40 Kilometer vor dem Finale. Oder ist er gar versucht, schon am ersten nennenswerten Anstieg des Rennens für eine Selektion zu sorgen, am Turchino-Pass, bei Kilometer 138 von insgesamt 288?
Pogacar bei der Strade Bianche
Letzte lange Flucht 1996
Die letzte erfolgreiche Attacke aus der Distanz datiert aus dem Jahr 1996. Damals stiefelte der Italiener Gabriele Colombo am Cipressa los. Drei Fluchtgefährten schlossen sich an. Das Quartett hielt das Feld auf Distanz, auch am gefürchteten Poggio. Einen Kilometer vor dem Ziel setzte Colombo die zweite Attacke und löste sich von den Begleitern.
Pogacars Problem allerdings ist: Er ist kein Gabriele Colombo, kein normaler Profi, bei dem die Rivalen denken: "Hm, gegen den habe ich doch Chancen. Lass uns also zusammenarbeiten." Wer aber will mit dem Überfahrer dieses Radsportjahrzehnts kooperieren, im Wissen darum, bei einem mörderischen Antritt am Poggio vom Slowenen stehen gelassen zu werden wie ein Radtourist?
Weil Pogacar selbst in den Köpfen seiner Konkurrenz lesen kann, holte er den Klassikerspruch zum Frühjahrsklassiker aus der Kiste: "Das ist das Rennen, das am schwersten zu gewinnen ist und es kann auf viele Arten enden."
Vom Sprinterklassiker zum Rennen für die Allrounder
Nun, gar so viele Arten sind es nicht. Viele Jahre war Mailand-Sanremo der Lieblingsklassiker der Sprinter. Erik Zabel etwa gewann ihn vier Mal.
In der letzten Dekade waren aber nur noch drei reine Sprinter erfolgreich, darunter John Degenkolb. Höhere Gewinnanteile hatten bergfeste Klassikerspezialisten wie Julian Alaphilippe (2019) Wout van Aert (2020) oder im vergangenen Jahr eben van der Poel. Mit Vincenzo Nibali war 2018 ein Sieger aller drei großer Rundfahrten erfolgreich.
Und sogar ein schlauer Technikfreak - Matej Mohoric mit seiner verstellbaren und damit extrem windschlüpfrigen Sattelstütze - schlug den explosiveren und kletterstärkeren Rivalen ein Schnippchen. In all diesen Jahren wurde die entscheidende Attacke am Poggio gesetzt, meist kurz vor der Kuppe. Aerodynamik-Pionier Mohoric nutzte zusätzlich die Abfahrt.
"Das leichteste Rennen, das am schwersten zu gewinnen ist"
Um die reinen Sprinter zu distanzieren – in diesem Jahr Jasper Philipsen, Jonathan Milan, Caleb Ewan und Olaf Kooij - bleibt der Poggio die klassische Rampe. "Hier wie an der Cipressa kommt es darauf an, gut positioniert zu sein. Und dann entscheiden die Beine", meinte lakonisch van der Poel.
Sich selbst sah der Titelverteidiger gleich mehrfach im Vorteil. Attacken am Berg kann er dank seiner Explosivität locker folgen. Und im Sprint aus kleinen Gruppen ist er kaum zu schlagen. "Positiv für mich ist auch noch, dass ich das Rennen schon einmal gewonnen habe. Ich kann also gelassener bleiben", sagte er.
Ruhig bleiben und nicht vor der Zeit wertvolle Kräfte vergeuden ist tatsächlich die erste Rennfahrerpflicht bei Mailand-Sanremo. Und dann gilt es, den richtigen Moment für die eigene Attacke zu wählen. Genau das macht, wie auch van der Poel noch einmal betonte, die Classicissima zum vom Profil her "leichtesten Rennen, das am schwersten zu gewinnen ist".