Paris-Roubaix Das Trostpflaster für John Degenkolb
John Degenkolb fiebert auch mit 35 Jahren noch auf den Tag im Jahr hin, wenn es für die Radprofis auf den schmerzhaften und gefährlichen Weg von Paris nach Roubaix geht.
Es sah aus wie auf einem Schlachtfeld. Blutüberströmt und benommen saß der Australier Mitch Docker am Waldrand. Demolierte Fahrräder lagen übers Kopfsteinpflaster verteilt. Helfer sammelten die Spuren eines Massensturzes auf. Docker, Radprofi vom Team Orica-Scott, war wie einige Berufskollegen auf der Strecke geblieben beim legendären Radrennen Paris-Roubaix.
"Ein Highspeed-Crash, der ihn hätte umbringen können", schrieb die Zeitung "Herald Sun" in seiner Heimat. Docker kam vergleichsweise glimpflich davon: Schnittverletzungen, Verlust einiger Zähne, Bruch an der Augenhöhle. Landsmann und Teamkollege Mathew Hayman fuhr an diesem Apriltag 2016 zum Sieg. Triumph und Tragik liegen bei dem wilden Ritt über grob gepflasterte Karrenwege eng beisammen.
Sturz unter den Besten
Das hat auch John Degenkolb erfahren müssen. Im Jahr 2015 fuhr er in die Geschichtsbücher des 1896 erstmals ausgetragenen Rennens, das er als zweiter Deutscher gewann. Im vergangenen Jahr hatte er nach jahrelanger "Durststrecke", wie er die sieglose Zeit seit 2020 selbst bezeichnet, endlich ein großes Erfolgserlebnis vor Augen.
Über den letzten schweren Pflasterabschnitt Carrefour de l’Arbre bretterte er Seite an Seite mit dem späteren Sieger Mathieu van der Poel, bis ihn dieser bei einem unachtsamen Fahrmanöver vom Rad rammte. Als sich Degenkolb wieder aufgerappelt hatte, war die Chance vorbei, mit den Ersten ins Velodrom von Roubaix zu fahren. Enttäuscht rollte er als Siebter über die Ziellinie.
Fiebernd der Hölle entgegen
Fiebert er nach diesem Erlebnis noch immer derart auf diesen einen Renntag im Jahr besonders hin - wie einst als junger Kerl? "Absolut! Roubaix ist das Rennen, auf das ich mich jetzt wochen- und monatelang vorbereitet habe - noch ein Stückchen mehr als früher, weil ich gesehen habe, dass bei Roubaix noch was für mich möglich ist. Bei den anderen Rennen ist die Lücke nach vorne nochmal ein Stück weit größer", sagte er der Sportschau zwei Tage vor seinem zwölften Start.
Man könnte sagen: Paris-Roubaix ist das Trostpflaster für den reifen Rennfahrer vom Team dsm firmenich-PostNL, der für andere Rennen nicht mehr schnell genug ist.
Ein dickes Knie als Handicap
Die Auflage des Rennens im Vorjahr war eine Art spätes Aha-Erlebnis in seiner Karriere - er kann es noch. "Mein Gefühl ist gut, ich bin auf der Höhe und weiß, wo ich zu fahren habe. Ich habe eine ordentliche Portion Ehrfurcht, aber Angst auf gar keinen Fall - ich habe nichts zu verlieren", sagt er vor der 121. Auflage des Klassikers.
Dabei ist schon das Training auf den Kopfsteinpflaster-Passagen gefährlich, wie Degenkolb bei einem Sturz während der Streckenbesichtigung zwei Tage vor dem Rennen feststellen musste, als die Pflastersteine nach viel Regen in jüngerer Zeit noch von einer schmierigen Schicht Matsch überzogen waren. "Das Knie ist jetzt ganz schön dick. Ich hoffe, dass es mich für Sonntag nicht zu sehr beeinträchtigen wird", sagte er kurz nach dem Malheur.
Gebremst in den Wald von Arenberg
Er liebt die Herausforderungen dieses Rennens, aber auch er spricht sich dafür aus, die Risiken zu minimieren. Er kennt die Stelle gut, wo Docker verunglückte. Es ist der Unfallschwerpunkt der Strecke, seit Jahren, immer wieder: die Einfahrt in den ersten Sektor der schwersten, der Fünf-Sterne-Kategorie. Hier nimmt das Rennen richtig Fahrt auf, schon rund 100 Kilometer vor dem Ziel.
Das Problem: Die Strecke ist sehr traditionell, aus der Zeit gefallen, während das Material und die Fitness der Rennfahrer immer besser werden. "Alle werden schneller. Die Rennfahrer gehen viel Risiko ein. Es muss dort etwas passieren", sagt der Roubaix-Sieger des Jahres 2015. Er meint: eine veränderte Streckenführung. Schwere Unfälle und die Diskussionen darüber haben das Frühjahr im Profi-Radsport geprägt - Roubaix-Mitfavorit Wout van Aert ist schon vor dem Start aus dem Rennen. Bei Quer durch Flandern erlitt er mehrere Knochenbrüche.
Eine Schikane – kein Witz!
Aber darüber, ob die vom Rennveranstalter ASO ergriffenen Maßnahmen sinnvoll sind oder nicht, darüber gehen die Meinungen auseinander. "Soll das ein Witz sein?", schrieb Weltmeister van der Poel auf dem Kurznachrichtendienst X, als er im Internet die Bilder von der neuen Streckenführung fand. Statt geradeaus mit Tempo 60 bis 65 in die abschüssige Waldschneise zu rasen, sollen die Rennfahrer mit einer Schikane, wie man sie von Motorsport-Rennstrecken kennt, auf Tempo 30 gezwungen werden - scharf rechts, dann um eine 180-Grad-Wende-Marke und dann erst in einer Art Schlangenlinie stark abgebremst in den berüchtigten Pavé-Sektor.
Adam Hansen, Ex-Profi und Präsident des Rennfahrerverbands CPA, findet die Fahrt durch dieses Nadelöhr gut, Mitfavorit Matteo Jorgenson (Team Visma-Lease a bike) aus den USA ebenfalls. "Das ist definitiv nicht die perfekte Lösung. Man verlagert das Problem. In dieser Schikane kann viel passieren", kritisiert hingegen Degenkolb. Statt auf eine flaschenhalsförmige Einfahrt in die Waldpassage rasen die Rennfahrer nun auf eine Wand aus Absperrgittern zu, die eine Vollbremsung erfordert. Doch für weitere Diskussionen dürfte es zu spät sein.
"Eine geile Show"
Wenn alles gut läuft, die neue Schikane nicht zur Fallgrube wird, dann könnte der berüchtigte Kopfstein-Klassiker für die deutschen Fans ein Jahres-Highlight werden. Denn Degenkolb ist kein Einzelkämpfer - er führt als Altmeister eine starke deutsche Fraktion an.
Nils Politt aus Hürth bei Köln darf nach seinem Wechsel von Bora-hansgrohe zu UAE Team Emirates für seine neue Equipe als Kapitän in das Rennen gehen, bei dem er 2019 als Zweiter hinter Philippe Gilbert einen sensationellen Triumph knapp verpasste. "Ich freue mich auf das Rennen. Ich habe letzte Woche gezeigt, dass ich gut drauf bin mit dem dritten Platz bei der Flandern-Rundfahrt. Ich hoffe, dass es am Sonntag trocken sein wird", sagt der 30-jährige Politt.
Der Dritte im Bunde ist Max Walscheid aus Neuwied, der sich im Vorjahr als Achter für die Führungsrolle bei seinem neuen Team Jayco-AIula qualifiziert hat. Degenkolb ist zuversichtlich: "Wir haben die Möglichkeit, ganz weit vorne reinzufahren - das ist das große Ziel. Wir wollen den Leuten eine geile Show abliefern und Deutschland gut vertreten." Eine Horrorshow würde er natürlich gerne ausschließen.