Auch Tour-Sieger Vingegaard betroffen Sturzserie im Radsport - "Massaker" und Berufsrisiko
Die Stürze prominenter Radsportler und schwere Verletzungen haben sich in den vergangenen Tagen gehäuft. Das entfacht die Diskussion über Sicherheit. Sie reicht von "Massaker" bis Berufsrisiko.
Jonas Vingegaard, Sieger der Tour der France 2022 und 2023, damit auch Topfavorit für die Ausgabe 2024, liegt im Krankenhaus mit Knochenbrüchen und einer Lungenverletzung. Remco Evenepoel, Weltmeister im Zeitfahren, liegt im Krankenhaus mit einem Bruch des rechten Schlüsselbeins sowie des Schulterblatts.
Wout van Aert, Gewinner des Grünen Trikots für den besten Sprinter bei der Tour 2022, erholt sich von einem Schlüsselbein- und mehreren Rippenbrüchen. Lennard Kämna, der bei jeder der großen Rundfahrten schon je eine Etappe gewann, liegt auf Teneriffa auf der Intensivstation eines Krankenhauses.
"Stopp, stopp, stopp, lassen Sie uns das Massaker beenden"
Zu diesen prominenten Namen kommen noch weitere Radprofis, die in den vergangenen Tagen folgenschwer stürzten. So erlitt Jay Vine bei der Baskenland-Rundfahrt schwere Knochenbrüche. Der Australier ist ein wichtiger Helfer von Tadej Pogacar, dem vermeintlich stärksten Rivalen von Vingegaard, wenn es im Sommer bei der Rundfahrt durch Frankreich um das Gelbe Trikot geht.
Es wird - wieder mal - um die Sicherheit im Radsport diskutiert, und es gibt markante Äußerungen. "Stopp, stopp, stopp, lassen Sie uns das Massaker beenden", sagte Thierry Gouvenou der französischen Sportzeitung "L'Equipe". Gouvenou ist Renndirektor bei Paris-Roubaix, dem Klassiker, der am Sonntag (07.04.2024) auf dem Programm steht. Er sieht die Probleme beim Tempo der Fahrer, das sowohl im Schnitt als auch bei Abfahrten immer höher wird.
"Wir werden immer schneller, weil das Material immer weiterentwickelt wird. Das ist wie in der Formel 1", sagte der deutsche Profi Nils Politt in einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Sein Landsmann Simon Geschke ging konkret auf den Massensturz am Donnerstag (04.04.2024) bei der Baskenland-Rundfahrt ein: "Es ist diese Wer-bremst-verliert-Mentalität. Es ist super tragisch, aber es ist aus meiner Sicht die Nervosität der Fahrer. Jeder wollte in die ersten zehn in dieser Abfahrt rein. Und wenn dann keiner bremst, dann passiert so etwas. Aber es ist schwer, einen Schuldigen auszumachen."
Mathieu van der Poel sieht das ähnlich: "Ich glaube, das gefährlichste Element des Radsports sind die Fahrer selbst. Es wird etwas riskiert, und das größte Problem ist: Alle wollen vorn am gleichen Platz sein, und das ist nicht möglich", erklärte der 29-jährige Weltmeister gegenüber "L'Équipe".
ARD-Experte Gerska: "Häufung eher ein Zufall"
Holger Gerska ist Radsport-Experte der ARD. Für ihn ist die Häufung der Stürze "eher ein Zufall" denn ein strukturelles Sicherheitsproblem. Der Sturz von van Aert beim Halbklassiker "Quer durch Flandern" sei auf Hochgeschwindigkeit zurückzuführen, ob dies aber tatsächlich auch im Norden Spaniens der Fall gewesen sei, wisse niemand. "Etwas Öl auf der Straße, Baumwurzeln unter dem Asphalt, es kann viele Ursachen haben. Bislang wissen wir es noch nicht", so Gerska.
Als "schärfstes Problem" sieht er nicht die Rennen, sondern das Training an. "Immer mehr Autos, immer mehr Hindernisse wie Verkehrsinseln, immer mehr Kreisverkehre" machten den Radsport gefährlicher. Zudem höre er immer häufiger, dass die Autofahrer aggressiver gegenüber Rennradfahrern würden, aber mit wissenschaftlichen Untersuchungen sei das nicht zu untermauern.
Einiges für die Sicherheit getan
Wie ARD-Experte Gerska sieht auch Politt kein strukturelles Problem. Es sei einiges mit Blick auf die Sicherheit getan worden: "Vieles hat sich geändert in den letzten Jahren." So wurden gefährliche Kurven in Abfahrten mit Schaumstoffblöcken gesichert, ähnlich wie beim Ski Alpin.
Politt gehört bei Paris-Roubaix zu den Anwärtern auf einen Platz unter den besten drei Fahrern. In der "Hölle des Nordens" ist die berüchtigte Schneise durch den Wald von Arenberg eine Gefahrenstelle. Die Veranstalter reagierten und bauten vor der Einfahrt in die Kopfsteinpflaster-Passage eine Schikane ein, um die Fahrer abzubremsen.
"Seit Monaten warnen wir alle. Die Rennveranstalter stellen zig Dinge auf die Beine. Aber wir stellen fest, dass die Stürze nur zunehmen", sagte Renndirektor Gouvenou und forderte daher auf, auch unter den Fahrern ein Bewusstsein für das Problem von Hochgeschwindigkeiten und extremem Risiko zu schärfen.
Der Kölner Nils Politt hält es für ein Berufsrisiko, das jeder eingehen müsse: "Man sollte schon Respekt haben. Aber Angst darf man nicht haben. Wenn Angst mitfährt, fährt man vorsichtig. Und dann hat man mehr oder weniger schon verloren."