Radsport bei den Paralympics Matthias Schindler - sein Glück hängt nicht an Medaillen
"Auf dem Rad fühle ich mich frei": Als Matthias Schindler nach einer Operation aufwachte, war er inkomplett querschnittsgelähmt. Der Para-Radsport half ihm in schweren Zeiten. Bei den Paralympics nimmt er heute (04.09.2024) Kurs auf Gold im Zeitfahren - doch sein Glück macht er nicht von Medaillen abhängig.
Der Moment, in dem Matthias Schindler seinem Traum näher war als je zuvor, war auch der Moment, in dem sich sein Leben grundlegend veränderte. Schindler war Polizist. Er hatte das große Ziel, Hubschrauberpilot zu werden und ging dafür zu einer intensiven flugmedizinischen Kontrolle - wo es allerdings einen niederschmetternden Zufallsbefund gab: In seinem Rücken befand sich ein rund drei Zentimeter großer Tumor an der Wirbelsäule.
2010 wurde das festgestellt, im Februar 2011 sollte der Tumor in einer Operation entfernt werden. Sechs Stunden arbeiteten die Ärzte im Münchner Klinikum an Schindlers Gesundheit, doch der Tumor war mit Nervenzellen verwachsen, die beschädigt wurden. Als er aufwachte, war er inkomplett querschnittsgelähmt. Unterhalb der Hüfte war sein Körper taub.
Schindler: Leben hat trotz Behinderung mehr Qualität
"Danach bin ich in ein Loch gefallen", gibt Schindler im Sportschau-Interview zu. Er schaffte es aus diesem Loch heraus, auch weil er mit dem Radsport eine neue Passion für sich entdeckte. "Ich wäre jeden Tag gerne nicht schwerbehindert, aber mein Leben hat jetzt mehr Qualität als vor der Behinderung. Das ist schön."
Schindler hat sich neue Ziele gesetzt und so sein Leben bereichert. Sechs Monate musste er nach der Operation in die Reha nach Herzogenaurach, er begann, zwischen der Klinik und seinem Wohnort Nürnberg mit dem Liegerad zu pendeln. Heute fährt Schindler ganz normal im Sitzen, er braucht dabei keine Unterstützung. Er kann sogar wieder laufen - obwohl sich an seinem Gesundheitszustand nichts geändert hat.
"An einem guten Tag merkt man mir nichts an, würde ich behaupten. An einem schlechten Tag würde man denken, ich sei betrunken", so der 42-Jährige.
Radfahren gibt Schindler das Gefühl von Freiheit
Das Laufen strengt ihn jedoch an, weil er sich auf jeden Schritt konzentrieren muss, es keine Automatismen gibt. Diese Anstrengungen hat er auf dem Fahrrad nicht, da "fühle ich mich frei. Auch wenn ich meine Einschränkungen spüre, genieße ich die Bewegung und die Freiheit, die es mir bietet", sagte Schindler.
Die Kombination aus dem Freiheitsgefühl und der Lust, an Radrennen teilzunehmen, hat dazu geführt, dass er im vergangenen Jahr Welt- und Europameister im Zeitfahren wurde - und zuvor bei den Paralympics in Tokio in der Disziplin schon Bronze gewonnen hatte. In Paris gehört Schindler nun auch zu den großen Favoriten im Kampf gegen die Uhr.
"Meine Form ist sehr gut, so wie sie sein muss. An der Spitze, on top, aber das ist keine Garantie, ich muss das auf die Straße bringen. Es zählt am Ende nur, was dabei rumkommt", sagte Schindler und prophezeite: "Es wird alles sehr eng beisammen sein und ich würde mich sehr über eine Medaille freuen, Gold wäre natürlich der Höhepunkt. Gold war in der Vorbereitung das große Ziel, aber jetzt ist es, mein bestes Rennen zu fahren."
Favorit im Einzelzeitfahren, aber die Familie ist entscheidend
Auf dem Zeitfahren am Mittwoch (04.09.2024, 14.25 Uhr) liegt sein Fokus, er bestreitet aber auch das Straßenrennen drei Tage später. "Das Einzelzeitfahren ist das große Ziel. Ich weiß, dass ich Weltklasse bin in einer langen Ausdauerleistung. Das kann ich, da tun sich die Jungen vielleicht auch etwas schwer", sagte Schindler. "Aber im Straßenrennen mit den ständigen Tempowechseln sind die Anfang 20-Jährigen einfach leistungsfähiger als ich. Darauf habe ich mich auch nicht vorbereitet. Aber wenn man an den Start geht, schenkt man das auch nicht ab."
Wer Schindler reden hört, merkt schnell, dass in ihm viel mehr steckt als ein erfolgreicher Sportler. "Es geht im Leben nicht darum, möglichst viele Medaillen zu gewinnen oder möglichst viel Geld zu verdienen. Das sind alles Ziele, die man sich steckt, aber in meinen Augen hat das nichts damit zu tun, ob man erfolgreich ist", sagte er. "Ich bin glücklich, dass meine Familie hier ist. Und egal, wie es ausgehen wird: Meine Familie ist es, was dem Ganzen eine Bedeutung gibt."
"Ich bin heute nicht aufgestanden, um durchschnittlich zu sein"
Dennoch gilt für Schindler: Wenn er etwas angeht, macht er das mit größtem Ehrgeiz und zu 100 Prozent, er ist ein Paradebeispiel für intrinsische Motivation. Das wird spätestens klar beim Blick auf seine beiden Lebensmottos: "Ich bin heute nicht aufgestanden, um durchschnittlich zu sein." Und: "Erfolg ist das Ergebnis von harter Arbeit".
Schindler hat sich stets alles hart erarbeitet. Als ihm das Schicksal einen gewaltigen Strich durch seine Lebensrechnung gemacht hatte, fand er eine Lösung und trainierte sich schon einmal auf das Paralympics-Treppchen. Nun will er dort noch die beiden Stufen auf die höchste Ebene gehen. Passiert das nicht, hätte er dennoch die Gewissheit, ein glückliches Leben zu führen. Denn sein Glück hängt nicht an Medaillen.