Klassifizierung bei den Paralympics FAQ: Gleiche Chancen für alle - durch Startklassen
Bei den Paralympics treten Menschen mit ganz unterschiedlichen Behinderungen (gegeneinander) an. Wer teilnehmen darf und in welchen Wettbewerben - das wird bei der sogenannten Klassifizierung entschieden. Sportschau.de beantwortet in diesem FAQ alle wichtigen Fragen zu Startklassen und erklärt, was sich aus den Bezeichnungen ablesen lässt.
Was ist die Klassifizierung?
Um einen fairen und spannenden Wettbewerb zu gewährleisten, hat das Internationale Paralympische Komitee (IPC) eine sogenannte Klassifizierung eingeführt. Dabei wird zunächst zwischen zehn Behinderungsarten unterschieden. Diese werden dann nach Startklassen je nach Ausmaß der Beeinträchtigung in der jeweiligen Sportart weiter differenziert.
Die Klassifizierung wird durch ein medizinisches und technisches Expertenteam durchgeführt. Dieses versucht herauszufinden, wozu Athletinnen und Athleten imstande sind. Für jede paralympische Sportart gibt es ein spezifisches Klassifizierungssystem.
Welche sind die zehn Hauptklassen bei den Paralympics?
Beeinträchtigung der Muskelleistung: Reduzierte Kraft in einem Muskel oder ganzen Muskelgruppen bei willentlicher Kontraktion. Beispiele sind Para- und Tetraplegie (Querschnittlähmung), muskuläre Dystrophie (Muskelschwäche), Post Poliomyelitis (Folgen von Kinderlähmung) und Spina Bifida (Neuralrohrfehlbildung). Die Klasseneinteilung erfolgt nach dem Wirbelsegment, unterhalb dessen die Lähmung besteht.
Beeinträchtigung der passiven Beweglichkeit: Die Bewegungsmöglichkeiten eines Gelenks oder mehrerer Gelenke sind systematisch eingeschränkt - bis hin zur Versteifung. Hypermobilität, Instabilität und akute Formen von Bewegungseinschränkungen (zum Beispiel arthritischer Art) sind von dieser Gruppe ausgenommen.
Fehlbildung oder Fehlen von Gliedmaßen: Komplettes oder teilweises Fehlen von Knochen oder Gelenken als Folge einer Verletzung (Amputation nach Unfall), von Krankheit (zum Beispiel Knochenkrebs) oder angeborener Fehlbildung einer oder mehrerer Gliedmaßen (Dysmelie).
Beeinträchtigung durch unterschiedliche Beinlänge: Verkürzung des Knochens in einem Bein als Folge einer angeborenen Fehlbildung oder eines Unfalls.
Kleinwuchs: Die Körpergröße ist durch Anomalien der Knochen in den oberen und unteren Gliedmaßen oder des Rumpfes reduziert.
Sehbehinderte: Die Sehfähigkeit ist entweder durch eine Störung der Funktion des Auges, des Sehnervs, der Augenstruktur oder des visuellen Cortex im Gehirn (visuelle Funktionen der Großhirnrinde) beeinträchtigt. Unterschieden wird zwischen "vollblind", "wenig Sehrest" und "sehbehindert" - auf dem besseren Auge.
Im Goalball tragen alle Spielerinnen und Spieler undurchsichtige Brillen.
Intellektuelle Beeinträchtigung: Darunter versteht die paralympische Bewegung signifikant limitierte intellektuelle Fähigkeiten und Defizite im konzeptionellen, sozialen und praktischen Anpassungsvermögen (adaptives Verhalten). Die Anerkennung dieser Behinderung ist an enge Grenzen geknüpft.
Die frühere Klasse der Zerebralparetiker wurde unterteilt. Die folgenden drei Klassen können zwar durch Zerebralparese (bei Kindern unter zwei Jahren) ausgelöst worden sein, aber auch durch Gehirnverletzungen (Traumata / Schlaganfälle) oder Multiple Sklerose. Unterschieden wird jeweils zwischen stehenden und sitzenden Athletinnen und Athleten:
- Muskelhypertonie: Beeinträchtigung durch erhöhte Spannung der Muskulatur und reduzierte Fähigkeit, einen Muskel zu strecken. Muskelhypertonie kann infolge einer Verletzung, einer Krankheit oder einer Beschädigung des zentralen Nervensystems auftreten.
- Ataxie: Verschiedene neurologisch bedingte Störungen der muskulären Bewegungskoordination, auch wenn keine Lähmung vorliegt (Parese).
- Athetose: Die Athetose variiert von einer leichten bis zur schweren motorischen Dysfunktion. Charakteristisch sind unwillkürliche, unkontrollierte Muskelbewegungen und Schwierigkeiten bei der Aufrechterhaltung einer symmetrischen Körperhaltung.
Was lässt sich aus den Abkürzungen für die Startklassen ablesen?
B3, WH1 oder F51: In den meisten Sportarten gibt es verschiedene Startklassen, in denen die Sportlerinnen und Sportler gegeneinander antreten. Der Buchstabe steht entweder für den Anfangsbuchstaben des englischen Namens der Sportart oder für die Besonderheit der Beeinträchtigung. Generell gilt: Je niedriger die folgende Zahl desto höher ist die Beeinträchtigung.
Im Goalball sind alle Spielerinnen und Spieler sehbehindert. Das "B" bedeutet blind. Es gibt die Klassen B1 bis B3 ("vollblind", "wenig Sehrest" und "sehbehindert"). Damit alle in einem Teilnehmerfeld antreten könne, tragen alle lichtundurchlässige Brillen.
Im Radsport starten die Athletinnen und Athleten mit einer Sehbehinderung alle in einer gemeinsamen Klasse (B) - sie fahren auf einem Tandem mit einem Piloten ohne Behinderung.
Neben den typischen Rollstuhlsportarten (Basketball, Tennis, Rugby oder Fechten) kommen Rollstühle auch in anderen Sportarten zum Einsatz. Im Badminton zum Beispiel in der Klasse "WH" - die Abkürzung steht für das englische Wort "wheelchair", also Rollstuhl.
Auch im Tischtennis gibt es die sitzenden Klassen 1-5. In den Klassen 6-11 spielen Sportlerinnen und Sportler, die beim Spiel stehen können.
Wofür stehen die Klassen beim Schwimmen?
Im Schwimmen wird zunächst zwischen den unterschiedlichen zugelassenen Beeinträchtigungen unterschieden: körperliche Behinderungen (S1-S10), Sehbehinderungen (S11-S13) und geistige Behinderungen (S14).
Gemeint ist hier stets das Freistilschwimmen. Es gibt aber auch noch andere Disziplinen, die sich dann am erweiterten Kürzel ablesen lassen: "SB" steht für Brustschwimmen, "SM" für das Lagenschwimmen (Englisch "medley").
Wichtig: Je nach der Art der Behinderung starten die Athletinnen und Athleten unterschiedlich. In jeder Klasse darf mit einem Startsprung, vom Beckenrand aus oder auch direkt aus dem Wasser gestartet werden.
Wofür stehen die Klassen in der Leichtathletik?
Bei der Leichtathletik, in der auch Rennrollstühle zum Einsatz kommen, wird zunächst zwischen den Sportarten auf dem Feld (F für "field") und der Bahn (T für "track") unterschieden. Die folgende Zahl steht dann für die unterschiedlichen Beeinträchtigungen.
- Die Klassen T/F11, 12, 13 stehen für verschiedene Grade der Sehbehinderung - hier kommen auch Guides zum Einsatz.
- Die Klassen T/F20 sind für Sportler und Sportlerinnen mit intellektuellen Beeinträchtigungen.
- F31-38, T32-38: Koordinationsstörungen - durch Muskelhypertonie, Ataxie oder Athetose
- F40 und F41: Kleinwüchsige Menschen
- T/F42-46 verschiedene Schweregrade von Amputierten und anderen Körperbehinderungen. In diesen Klassen können unterschiedliche Prothesen genutzt werden.
- In den Klassen T51-54 wird auf der Bahn der Rennrollstuhl genutzt.
- Die Klassen F51-58 sind für die Wurfdisziplinen im Sitzen.
- T/F61-64: Einschränkung untere Extremität und Nutzung von Prothese
Beispiele: Wer wird in welche Startklasse eingeteilt?
In der Klasse T64 startet zum Beispiel Markus Rehm. Dem Weitspringer musste nach einem Sportunfall der rechte Unterschenkel amputiert werden. Er trägt eine Unterschenkelprothese. Léon Schäfer hat hingegen an seinem rechten Bein kein Kniegelenk mehr, er trägt eine Oberschenkelprothese und startet in der Klasse T63. Die Zahl ist kleiner, weil seine Beeinträchtigung größer ist.
Sprinter Johannes Floors wiederum hat sich in seiner Jugend gegen den Rollstuhl und für eine Amputation beider Unterschenkel entschieden. Er startet in der Klasse T62.
Es können auch Sportlerinnen und Sportler mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen in einer Klasse starten. Entscheidend ist, wie sehr sich die Behinderung in ihrer Sportart auswirkt. Beispiel: Sprinterin Irmgard Bensusan läuft gegen Frauen mit Prothesen. Bensusan selbst trägt eine Orthese am rechten Unterschenkel, ohne die sie mit dem Fußrücken aufkommen würde. Sie kann den Fuß nicht abrollen. Der sogenannte "Drop foot" wird als gleich schwere Beeinträchtigung eingeordnet.
Wieso treten Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen gegeneinander an?
Die Klassifizierung soll dazu führen, das Menschen mit vergleichbaren Beeinträchtigungen gegeneinander antreten. Es geht also darum, welchen Einfluss die Behinderung auf den konkreten Sport hat. Deshalb kann es sein, dass sich von der optischen Erscheinung her zwei doch recht unterschiedliche Kontrahenten gegenüberstehen. Nicht die Behinderung, sondern die individuellen Fähigkeiten sollen entscheidend sein.
Es geht dabei um ähnliche funktionale Fähigkeiten in Sachen Bewegung, Koordination und Gleichgewicht - jeweils mit Blick auf die Bedeutung für den jeweiligen Sport.
Wieso gibt es immer wieder Kritik an der Klassifizierung?
Die Klassifizierung ist ein wichtiger, aber auch heikler Vorgang. Auf der einen Seite stehen die Klassifizierer - die aus der Sportwissenschaft, Physiotherapie oder Medizin kommen. Es gilt das Vier-Augen-Prinzip - an jedem Vorgang sind zwei Klassifizierer beteiligt.
Trotzdem ist die Beurteilung mitunter schwierig. Ihre Aufgabe ist es, die Teilnehmenden richtig einzuschätzen und gegebenenfalls auch herauszufinden, ob jemand versucht, in einer niedrigeren Startklasse eingruppiert zu werden, um die eigenen Erfolgschancen zu erhöhen.
Dann ist das für einen Behinderten nicht nur ein Schlag ins Gesicht, sondern eine immense Demütigung, die sich eigentlich nicht in Worte fassen lässt.
Auf der anderen Seite stehen aber immer wieder Sportlerinnen und Sportler, die sich ungerecht behandelt fühlen: "Es ist einfach ziemlich scheiße, behindert zu sein. Ich habe mich damit arrangiert, deshalb komme ich damit einigermaßen klar", erklärte der deutsche Schwimmer Josia Topf im Sportschau-Interview bei den Paralympics in Tokio.
Er selbst sah sich bei seiner Klassifizierung aber Vorwürfen ausgesetzt, er würde bewusst nicht richtig mitmachen und sich dumm anstellen, um den ganzen Vorgang zu sabotieren.
Wieso ist der Rollstuhlbasketball ein Spezialfall?
Anders als in vielen anderen Sportarten gibt es im Rollstuhlbasketball keine unterschiedlichen Klassen, sondern nur eine, in der sich nach einem ausgeklügelten Punktesystem zusammengestellte Mannschaften gegenüberstehen. Inklusion wird hier groß geschrieben - je nach Wettbewerb dürfen sogar Menschen ohne Behinderung in den Teams mitspielen.
Bei den Paralympics ist dies nicht erlaubt. Nachdem das Internationale Paralympische Komitee (IPC) dem Rollstuhlbasketball-Verband sogar mit Ausschluss gedroht hatte, falls er nicht von seinem immer noch sehr inklusiven Ansatz abweichen würde, wurden die Regeln in den vergangenen Jahren sogar noch einmal verschärft.
Im Rollstuhlbasketball wurden die Klassifizierungsregeln noch mal verschärft.
Das hat zur Folge, dass einige Sportlerinnen und Sportler, die aufgrund ihrer Behinderung im olympischen Sport keine Chance haben und in den vergangenen Jahren noch bei den Paralympics angetreten sind, jetzt für die Sommerspiele "nicht mehr behindert genug" sind.
Wie erfolgt die Klassifizierung im Rollstuhlbasketball?
Beim Rollstuhlbasketball werden die Spielerinnen und Spieler nach dem Grad ihrer Beeinträchtigung im Sport klassifiziert. Ihre Klasse entspricht dabei einem bestimmten Punktewert, der wichtig für die mögliche Aufstellung auf dem Feld ist. Die Punkte reichen von 1 bis 4,5. Dabei steht die 1 für die schwerste Beeinträchtigung. Das fünfköpfige Team darf bei den paralympischen Spielen eine Gesamtpunktzahl von 14 nicht überschreiten. Für 4,5 Punkte ist eine ausreichende Behinderung nach den Klassifizierungsregeln nötig.
Die deutsche Spielerin Mareike Miller hat eine "Minimalbehinderung" und darf weiterhin spielen - sie hat aber für die zurückgeschrumpfte Inklusion kein Verständnis: "Es kann ja nicht der Sinn des Ganzen sein, dass jemand, dessen Knie nicht ganz so kaputt ist, seinen Körper noch ein bisschen mehr schinden muss, bevor es ein Startrecht gibt. Wir hätten alle gern gesündere Körper."
Welche Besonderheiten gibt es beim Rollstuhlrugby?
Rollstuhlrugby ist die einzige Mannschaftssportart die mit geschlechtergemischten Teams gespielt wird. Die Klassifizierung funktioniert so ähnlich wie im Rollstuhlbasketball. Das Punkteschema reicht hier allerdings von 0,5 bis 3,5. Die Viererteams auf dem Feld dürfen dabei in Summe nicht mehr als acht Punkte zusammenbringen. 8,5 Punkte sind erlaubt, wenn eine Frau auf dem Feld ist. 3,5 Punkte stehen hier für die Spielerinnen und Spieler mit den leichtesten Einschränkungen. Die niedrigsten Werte (0,5 bis 1,5) gehen an diejenigen mit Einschränkungen in der Mobilität.