Sprint-Europameisterin Gina Lückenkemper

Sprint-Europameisterin Lückenkemper - "Zeiten sind krasser geworden - aber ich auch"

Stand: 02.06.2023 09:33 Uhr

Seit 2020 trainiert Gina Lückenkemper in Florida bei Starcoach Lance Brauman. Die Zusammenarbeit fruchtet. Nach EM-Gold will sie nun ins WM-Finale. Dafür liegt sie schon mal "heulend auf der Bahn" oder "ausgeknockt" auf der Couch.

Gina Lückenkemper ist generell ein positiver, fröhlicher Mensch. Doch als die Sprinterin am Mittwoch in den Flieger nach Florenz stieg, war sie besonders gut gelaunt.

"Jetzt geht der spaßige Teil des Jahres los", sagte Lückenkemper im Gespräch mit der Sportschau. Am Freitagabend wird die 26-Jährige beim Diamond League-Meeting in der italienischen Metropole über die 100 Meter starten.

Es ist ihr Auftakt in die europäische Freiluftsaison - und es ist zugleich ihr erster Auftritt seit vielen Jahren bei einem Event der Diamond-League-Serie. "Ich möchte ein technisch sauberes Rennen auf die Bahn bringen. Denn in den vergangenen Wochen durfte ich feststellen: Wenn ich technisch sauber laufe, werden die Rennen unfassbar schnell", so Lückenkemper, die hörbar stolz ergänzt, dass sie "momentan so fit wie nie" sei.

Anfang Mai läuft Lückenkemper bereits 11,00 Sekunden

Ihre bisherigen Ergebnisse bestätigen das. In Atlanta sprintete die Europameisterin am 6. Mai nach 11,00 Sekunden über die Ziellinie, auf den Bermuda-Inseln wurde Lückenkemper am 21. Mai mit 11,03 Sekunden gestoppt. "Und alles aus dem Training heraus", hebt sie hervor. Zum Vergleich: Ihre schnellsten Zeiten des Vorjahres waren 10,99 Sekunden bei den deutschen Meisterschaften sowie im EM-Finale von München.

Der Grund für die Frühform liegt in Clermont, einer Kleinstadt in Zentral-Florida, rund 35 Kilometer westlich von Orlando. Dort befindet sich das National Training Center von Lance Brauman. Der US-Amerikaner gilt im Sprintbereich als Top-Trainer - und somit als Magnet für internationale Stars. Zu seiner Trainingsgruppe gehören Weltmeister wie Noah Lyles (USA/200 Meter), Olympiasiegerin Shaunea Miller-Uibo (Bahamas/400 Meter) oder auch Weltrekordhalter Wayde van Niekerk (Südafrika/400 Meter).

Im Vorjahr "anderes Level erreicht"

Seit 2020 trainiert auch Gina Lückenkemper bei Brauman. Man habe sich zunächst "aneinander gewöhnen müssen", aber das sei "völlig normal", sagt der 53-Jährige gegenüber der Sportschau. Es dauerte einige Zeit, bis sich Lückenkempers Körper an die harten Einheiten angepasst hatte, nicht mehr streikte - und die Deutsche somit verletzungsfrei durchtrainieren konnte.

Brauman spricht von einer "Lernkurve" und bestätigt Lückenkemper, im vergangenen Jahr "ein anderes Level erreicht", und "unser Training viel besser verkraftet" zu haben.

Das Ergebnis war die erfolgreichste Saison in der Karriere von Lückenkemper. Wenn sie über 2022 spricht, ist gut zu erkennen, wie sie im Kopf "die vielen Höhepunkte" noch einmal durchgeht. Und "jeder einzelne dieser vielen kleinen Höhepunkte", betont Lückenkemper, sei für sie "wichtig und besonders" gewesen. Der deutsche Meistertitel im Berliner Olympiastadion in 10,99 Sekunden zum Beispiel. Erstmals seit vier Jahren war sie wieder unter der Elf-Sekunden-Marke geblieben.

Lückenkemper holte EM-Gold und wurde "Sportlerin des Jahres"

Dann die WM in Eugene. Erst der Frust nach dem Halbfinal-Aus über die 100 Meter, "weil ich da mein Potenzial nicht abrufen konnte." Aber dann folgte wenige Tage später "dieser Wahnsinns-Staffelerfolg." Lückenkemper sprintete zusammen mit Tatjana Pinto, Alexandra Burghardt und Rebekka Haase zu Bronze über die 4x100 Meter.

Bei der anschließenden EM in München habe sie "jede einzelne Sekunde unfassbar genossen". Lückenkemper holte Gold über die 100 Meter sowie mit der Staffel. Und im Dezember wurde sie zur "Sportlerin des Jahres" gewählt. "Für mich einfach eine wahnsinnig große Anerkennung."

"The European Champ is here!"

All die Medaillen und Meriten haben nicht nur in Deutschland für Schlagzeilen gesorgt, sondern auch ihren Stand und Status in Florida erhöht. Als Lückenkemper im Herbst erstmals nach ihren Erfolgen zurück nach Clermont kam, begrüßten sie ihre Trainingskollegen und Kolleginnen mit: "The European Champ is here!" Und wenn Wayde van Niekerk bei den Koordinationsübungen über 20 Meter zum Auftakt der Einheiten vor der Deutschen ins Ziel kam, rief der Südafrikaner regelmäßig: "I beat the European Champ!" (Ich habe die Europameisterin besiegt).

Anfang März flog Lückenkemper wieder nach Florida. Brauman hatte angekündigt, der Trainingsgruppe "die Beine wegzunehmen"- und Wort gehalten. Lückenkemper berichtet von "dem einen oder anderen Tag" an dem sie nach dem Training zu Hause "erstmal für ‘ne Stunde ausgeknockt auf der Couch" gelegen habe und "völlig weg" gewesen sei. Erst Mitte Mai, sagt sie, seien die Einheiten etwas weniger hart geworden.

Trainer Brauman hält deutschen Rekord für möglich

Brauman nennt Lückenkemper eine "Yes, Sir. No, Sir"-Athletin, die "immer lernen" wolle. "Besser geht’s nicht", so der US-Amerikaner. Lückenkemper will künftig "konstant unter elf Sekunden laufen".

Brauman traut seiner Athletin sogar Zeiten zu, die für deutsche Frauen lange Zeit utopisch waren. "Ich denke, dass sie unter 10,90 Sekunden laufen kann", sagt der Coach. Er hält selbst den deutschen Rekord von Marlies Göhr von 10,81 Sekunden für möglich. "Aber lass uns erstmal die 10,90 Sekunden anvisieren - und dann sehen wir weiter."

Brauman spricht von "einem Prozess" und davon, dass derartige Ziele "in kleinen Schritten" angegangen werden müssen. Das gemeinsame große Ziel sind die Sommerspiele im kommenden Jahr in Paris. Auf dem Weg dorthin ist die diesjährige WM in Budapest eine wichtige Zwischenetappe. "Das ist das, wofür ich mir den Arsch so dermaßen aufgerissen habe in Florida - und das eine oder andere mal heulend auf der Tartanbahn gelegen habe", betont Lückenkemper unverblümt.

Offene Rechnung mit der WM

Sie ist extra motiviert, habe mit der WM "noch eine Rechnung offen." Denn sie wolle "sich nicht damit zufrieden geben, es nicht in ein WM-Einzelfinale zu schaffen", sagt Lückenkemper, die den Endlauf vergangenen Sommer in Eugene um 12 Hundertstel verpasst hatte. Die Zeiten, hebt sie hervor, seien zwar "krasser geworden - aber das bin ich auch."