Triumph bei US Open Jannik Sinner - Gesicht einer neuen Generation
Jannik Sinner gewinnt als erster Italiener die US Open und verdirbt Taylor Fritz den "Heimsieg". Dabei hatte es zuletzt Wirbel um eine positive Dopingprobe gegeben.
Im Augenblick seinen großen Triumphes wurde Jannik Sinner sentimental. Der Südtiroler hatte soeben erstmals die US Open gewonnen, sich in einem einseitigen Endspiel souverän gegen den Amerikaner Taylor Fritz 6:3, 6:4, 7:5 durchgesetzt. Dennoch jubelte Sinner keineswegs ausgelassen, sondern wirkte eher introvertiert.
Er sprach davon, wie sehr er Tennis liebe und dass er für "Spiele auf Bühnen wie dieser” trainiert habe. Aber, so der 23-Jährige weiter, es gebe eben auch noch "ein Leben abseits des Tennisplatzes". Und damit war er bei seiner eigentlichen Botschaft. Seine Gedanken waren bei einer Tante. Ihr wolle er diesen Titel widmen. Denn ihr gehe es "wirklich nicht gut”, so Sinner im Interview auf dem Platz.
"Ein sehr wichtiger Mensch"
Die rund 24.000 Fans, die in den 2:16 Stunden Spielzeit zuvor noch so lautstark waren, weil sie Landsmann Taylor Fritz zum Sieg brüllen wollten, hörten Sinner andächtig und mitunter sichtlich bewegt zu. Auf der Pressekonferenz ging der Italiener noch etwas näher auf die Beziehung zu seiner Tante ein.
Sie sei "ein sehr wichtiger Mensch” für ihn, so Sinner. Als er noch ein Kind war, sei sie immer für ihn da gewesen - ob im Winter bei den Skirennen oder in den Sommerferien. Denn seine Eltern, Siglinde, eine Kellnerin und Johann, ein Koch, hatten in der Gastronomie im heimischen Hochpustertal "Tag für Tag” hart gearbeitet und deshalb nur wenig Zeit für ihren Sohn, betonte Sinner. Er wisse nicht, wie lange er seine Tante noch in seinem Leben haben werde. Deshalb sei es schön, dass er "positive Augenblicke wie diese noch mit ihr teilen” könne.
Sinner kontrolliert Fritz und somit den Lautstärkepegel
Es stand am Sonntag nie infrage, dass dieses Endspiel der 144. US Open für Sinner ein positiver Augenblick werden würde. Er war der Favorit. Er war der bessere Spieler. Er diktierte das Gros des Geschehens auf dem Platz. Und, das ist bei diesem Major in Flushing Meadows besonders wichtig: Er kontrollierte Fritz - und somit auch den Lautstärkepegel im größten Tennis-Stadion der Welt.
Nur im dritten Satz wurde die Arena für einige Minuten zum Epizentrum der amerikanischen Emotionen, als Fritz beim Stand von 2:3 aufschlug und zwei Breakbälle abwehren musste. Dies gelang ihm, er glich zum 3:3 aus, nahm Sinner anschließend das Service ab, brachte seinen eigenen Aufschlag durch und führte somit 5:3. Die Fans, darunter Celebrities wie Taylor Swift, Usher, Dustin Hofmann oder Matthew McConaughey, der sogar ein Stars-and-Stripes-Stirnband trug, sprangen von ihren Sitzen, sie jubelten, schrien, grölten. Es war, als hätte Fritz den Tennistempel angezündet.
55. Sieg im 60. Match des Jahres
Doch dann kam Sinner umgehend mit dem Feuerlöscher. Er brachte seine beiden Aufschlagspiele durch, nahm Fritz zweimal dessen Service ab und gewann ein Finale, das dem großen Hype nie gerecht wurde. Was hatten sie in Amerika gejubelt, als Taylor Fritz es als erster US-Spieler seit Andy Roddick 2006 wieder ins Endspiel dieses Turniers geschafft hatte. Und was hatten sie gehofft, dass es seit Roddicks Triumph 2003 nun endlich wieder einen amerikanischen Champion beim "Heim-Grand-Slam” geben würde.
Doch letztlich war der Unterschied zwischen den Protagonisten so groß, wie es die elf Plätze Differenz in der Weltrangliste suggerieren. Fritz wollte in seinem ersten Grand-Slam-Finale zwar, konnte aber einfach nicht. Trotz Heimvorteil und Hysterie. Und Sinner, der in seinem 60. Match des Jahres zum 55. Mal gewann, trat auf wie ein Branchenprimus. Er ließ sich einfach nicht beeindrucken. Nicht vom Gegner, nicht vom Publikum.
Dopingtests sorgten vor Turnierbeginn für Aufregung
Auch die vielen Fragen zu seinen beiden positiven Dopingtests hatten ihn in den vergangenen beiden Wochen nicht verunsichert. Wenige Tage vor Turnierbeginn wurde öffentlich, dass Sinner im März zweimal positiv auf das anabole Steroid Clostebol getestet worden war. Er erklärte, dass das Mittel durch Massagen seines Physiotherapeuten Giacomo Naldi in seinen Körper gekommen sei.
Denn Naldi habe sich an seiner Hand geschnitten und die Wunde mit einem in Italien rezeptfreien Spray behandelt, das Clostebol enthielt. Dass die nachgewiesene Menge des Steroids in seinem Körper nur 0,000000001 Prozent betrug, sah Sinner als Beweis seiner Version an. Die International Tennis Integrity Agency (ITIA) glaubte ihm und verzichtete auf eine langfristige Sperre. Allerdings sahen es viele als dubios an, dass die ITIA diesen Vorfall erst am 20. August publik gemacht hatte - fünf Monate nach den positiven Tests.
Erster Italiener in vielen Kategorien
Je länger das Turnier dauerte, desto weniger wurde darüber gesprochen. Doch nach Sinners Sieg griff "ESPN"-Kommentator Patrick McEnroe die Thematik noch einmal auf. "Denkt mal dran, was er und sein Team in den vergangenen sechs Monaten alles zusammen durchgemacht haben. Mit dem positiven Dopingtest und wie er da rausgekommen ist”, sagte er. Sinner betonte, dass ihm der Titel "sehr viel” bedeute, eben weil diese Zeit "wirklich nicht einfach” gewesen sei. Aber sein Team habe ihn jeden Tag unterstützt.
Mit dem Sieg von Flushing Meadows setzt Sinner seinen sportlichen Höhenflug in diesem Jahr fort. Im Januar hatte er als erster Italiener die Australian Open gewonnen, sich im Finale nach einem 0:2-Satzrückstand gegen Daniil Medwedew noch in fünf Durchgängen durchgesetzt. Im Juni war Sinner die Nummer eins der Weltrangliste geworden - auch das hatte vor ihm noch kein Landsmann geschafft. Und nun folgte der Triumph bei den US Open, natürlich als erster Italiener. Aber dieser Zusatz ist bei ihm mittlerweile nicht mehr nötig.
Mit Alcaraz das Gesicht der neuen Tennis-Generation
Sie hatten durchaus schon einige erfolgreiche Tennisspieler zwischen Südtirol und Sizilien. Nicola Pietrangeli zum Beispiel, der 1959 und 1960 die französischen Meisterschaften gewann, das Vorgängerturnier der French Open. Adriano Panatta triumphierte 1976 in Roland Garros. Und Matteo Berrettini hatte es 2021 ins Finale von Wimbledon geschafft. Aber einen wie Jannik Sinner, den hatten sie in Italien noch nie.
Der Lockenkopf ist neben dem 21-jährigen Spanier Carlos Alcaraz, der in diesem Jahr die French Open und Wimbledon gewann, das Gesicht der neuen Tennis-Generation. Wer künftig gewinnen will, wird ihn besiegen müssen. Auf Hartplatz scheint das nahezu unmöglich. Sinners Jahresbilanz auf diesem Untergrund: 35:2. Das macht ihn zum Favoriten für das nächste Grand-Slam-Turnier - die Australian Open.