Jannik Sinner vor den US Open Unschuldiger Sünder oder dreister Doper?
Im Vorfeld der US Open geht’s um Doping. Die positiven Tests von Jannik Sinner, die keine Konsequenzen für ihn hatten, sind das dominierende Thema. Der Italiener gibt sich unschuldig. Novak Djokovic fordert Regeländerungen.
Jannik Sinner stürmt energisch ans Netz vor und schließt den Angriff mit einem sehenswerten und für seinen argentinischen Trainingspartner Sebastián Báez unerreichbaren Volley ab. Die rund 500 Fans, die am Sonntagmittag für die Übungseinheit des italienischen Weltranglisten-Ersten auf den Grandstand im Billie Jean King National Tennis Center gekommen sind, bejubeln Sinners Aktion und klatschen frenetisch Beifall.
Nach knapp 30 Minuten ist das Training bei rund 30 Grad Celsius beendet. Sinner (weißes Basecap, schwarzes Shirt, weiße Shorts) posiert anschließend für Fotos. Er legt sich ein weißes Handtuch um die Schultern, trinkt aus seiner Wasserflasche. "Dies ist der Australian Open-Champion, dies ist Jannik Sinner”, brüllt ein Mann in sein Mikro, der ihm anschließend auf dem Platz einige Fragen stellt.
Vom Typ her prädestiniert für "Everybody’s Darling”
Es ist ein Pläuschchen, mehr nicht. Es geht um New York, um Sinners Anfänge hier, um seinen Ausblick auf die kommenden beiden Wochen. Dann ist der Small Talk auch schon vorbei und der Platzsprecher schreit erneut in sein Mikro: "Die Nummer eins der Welt, Jannik Sinner!” Die Menge jubelt, Sinner wirft drei Tennisbälle ins Publikum und schreibt Autogramme auf T-Shirts, Basecaps und was ihm die Fans sonst noch so entgegenhalten.
Der 23-Jährige ist zweifellos begehrt und beliebt - bei den kleinen und großen Tennis-Afficionados. Die New Yorker Publikums-Lieblinge Roger Federer und Rafael Nadal sind in Tennis-Rente oder verletzt. Da kommt dieser sportlich erfolgreiche und äußerst sympathisch auftretende Jannik Sinner gerade recht, um die Rolle von "Everybody’s Darling” einzunehmen.
Makelloses Image ist angekratzt
Und wäre da nicht dieser 20. August gewesen, dann wäre es wohl auch eine rundum tolle Geschichte für ihn hier beim vierten und letzten Grand Slam-Turnier des Jahres, bei dem er zum engsten Favoritenkreis zählt. Doch an jenem Dienstag bekam das bislang so makellose Image des Südtirolers einen Kratzer.
Es wurde bekannt, dass Sinner im März zweimal positiv auf das anabole Steroid Clostebol getestet worden war. Er gab an, das Mittel sei durch seinen Physiotherapeuten, Giacomo Naldi, in seinen Körper gekommen. Naldi, so heißt es, habe sich an seiner Hand geschnitten und die Wunde mit einem in Italien rezeptfreien Spray behandelt, das Clostebol enthielt. Sinners Athletiktrainer Umberto Ferrara hatte das Spray besorgt.
Entlassene Team-Mitglieder schuldig oder Bauernopfer?
Der International Tennis Integrity Agency (ITIA) reichte diese Version, um den diesjährigen Australian-Open-Gewinner nicht längerfristig zu sanktionieren. Die vom Tennis-Weltverband, Spielergewerkschaften und Turnierveranstaltern eingesetzte Institution hatte die Angelegenheit am 20. August publik gemacht. Erst dadurch wurde die Öffentlichkeit darüber informiert, dass Sinner, nach Bekanntwerden der positiven Proben, im April mit einer vorläufigen Sperre belegt wurde. Da der Tennis-Profi jedoch erfolgreich Berufung einlegte, habe er anschließend weiter an Turnieren teilnehmen dürfen, heißt es.
Sinner hat sich mittlerweile von Ferrara und Naldi getrennt. Aufgrund der Fehler fühle er sich nicht "selbstbewusst”, um mit beiden weiterarbeiten zu können, sagte er. Doch sind sein Fitnesscoach und der Masseur tatsächlich die Schuldigen - oder nur Bauernopfer?
Clostebol-Menge in Sinners Körper: 0,000000001 Prozent
Eine Pressekonferenz im Arthur Ashe Stadium am Freitag ergab kaum Aufschlussreiches. Sinner sagte im voll besetzten Presseraum das, was in der langen Geschichte des Sports schon andere positiv Getestete von sich gaben. Sätze wie, er wisse, dass er nichts Falsches getan habe. Dass er die Anti-Doping-Regeln "immer beachtet” habe, dies natürlich "auch weiterhin machen” werde. Ach und dass er doch "nur ein einfacher Tennis-Spieler” sei. Und dann verwies Sinner noch darauf, wie verschwindend gering die Menge an Clostebol gewesen sei, die in seinem Körper gefunden wurde. "0,000000001 Prozent.”
Er wirkte dabei insgesamt nicht allzu souverän, sondern so, als hätte er drei Matchbälle gegen sich. Deshalb kam ihm der Pressesprecher der US Open zur Hilfe und hob hervor, dass keine weiteren Fragen zur Causa erlaubt seien. Das wiederum sorgte für Murren unter den Medienvertretern. Ein klares Zeichen, dass es vor diesen 144. US Open im Vorfeld kein größeres und wichtiges Thema gibt, als die positiven Doping-Tests des Branchenprimus.
Zverev ohne Meinung zur Sache Sinner
Alexander Zverev hatte keine Antwort darauf. Er habe keine Meinung zu der Sache, weil er zu wenig Informationen habe, sagte der Hamburger. Zverev fügte an, dass Sinner "ein super Typ" sei, den er auch "außerhalb des Platzes" kenne und zu dem er "immer eine gute Beziehung gehabt" habe. Und das, so Zverev, werde "sich auch nicht ändern".
Djokovic: "Mangel an Konsequenzen”
Carlos Alcaraz gab sich diplomatisch, nannte es einen "sehr sensiblen und ernsten Fall". Letztlich, so Alcaraz, sei Sinner aber "unschuldig” oder werde "als unschuldig betrachtet". Novak Djokovic hingegen wurde deutlicher und forderte, dass das aktuelle Doping-Protokoll verändert werden müsse. Es gebe "viele Probleme”, so der Serbe, der einen "Mangel an Konsequenzen” beklagte.
Simona Halep beispielsweise war im September 2023 von der ITIA aufgrund der Einnahme einer verbotenen Substanz für vier Jahre gesperrt worden. Der Internationale Sportgerichtshof CAS hatte diese Sanktion der Rumänin später auf neun Monate reduziert.
Buhrufe oder Beifall bei Sinners Auftakt?
Die Welt-Anti-Doping-Agentur WADA hat signalisiert, den Fall Sinner prüfen zu wollen. Doch das kann dauern - und wird keinen Einfluss auf seinen Start bei den US Open haben. Der Weltranglisten-Erste ist mit fünf Turniersiegen in diesem Jahr nach New York gereist. Zuletzt hatte er vor wenigen Tagen die bestens besetzten Cincinnati Open gewonnen.
Am Dienstag spielt Sinner in Flushing Meadows sein Auftaktmatch gegen den US-Amerikaner Mackenzie McDonald. Im Arthur Ashe Stadium. Dem größten Tennis-Tempel der Welt. Eine würdige Bühne für einen Branchenprimus. Es wird interessant sein, zu sehen, wie das New Yorker Publikum ihn empfängt. Mit Buhrufen oder mit Beifall?