Busemanns EM-Kolumne Irgendwas passiert immer - Zehnkampf ist verrückt und perfekt
Keiner der Zehnkämpfer hat bei der Leichtathletik-EM in Rom perfekt abgeliefert - aber gerade Fehler, Kuriositäten am Rande und die höllischen sportlichen Qualen faszinieren bei dem zweitägigen Spektakel immer wieder aufs Neue, meint Ex-Zehnkämpfer und ARD-Leichtathletik-Experte Frank Busemann in seiner EM-Kolumne.
Der Zehnkampf ist schon eine seltsame Erfindung. Man quetsche alles, was einem so einfällt, in eine Disziplin, achte darauf, dass man sich unterwegs ein wenig wehtun kann, definitiv an und über Belastungsgrenzen geht, die dem gesunden Lebenswandel nicht förderlich sind, und nenne es Zehnkampf.
So geschehen wieder bei den Europameisterschaften im Rom. 24 Athleten machen sich auf den Weg, in zwei Tagen in möglichst vielen Anforderungen möglichst wenig Fehler zu machen. Eins ist gewiss: Es wird nicht funktionieren. Irgendwas passiert immer.
Bis zum 400-m-Lauf ist alles ganz easy
Der erste Tag ist im Grunde genommen Kindergeburtstag: Ein bisschen Sprinten, Weitspringen, Kugelstoßen, Hochspringen und dann - okay, das wird ein bisschen blöd - 400 Meter laufen. Aber auch das ist einfach. Es ertönt ein Schuss, der Weg ist ausgeschildert und nach einer kleinen Runde ist man auch schon wieder da und kann von der Bahn gekratzt werden.
Dann nämlich beginnt der Zehnkampf. Bis dahin hat alles noch Bundesjugendspiel-Niveau. Laufen, Springen, Werfen. Wie in der Schule. Aber diese 400 Meter, die ziehen einem die Energie aus den Knochen.
Nervensystem total überlastet
Die Athleten stehen am ersten Morgen vier Stunden vor dem ersten Startschuss auf, also gegen sechs Uhr, und beenden ihren ersten Arbeitstag de facto mit dem Zieleinlauf gegen kurz vor 23 Uhr. Komplett übersäuert und das Nervensystem total überlastet, versuchen Physiotherapeuten noch ein wenig die Übermüdung einzufangen. Dann wird gegessen - und irgendwann sinkt der Athlet ins Bett.
Wenn selbst das Schlafen anstrengend ist
Normalerweise sollte man meinen, dass nach einem anstrengenden Tag die Bettschwere bleiern ist, aber das Schlafen ist wegen der Anstrengung anstrengend. Verwirrend. Das sind auch die Gedanken. Alle, die gut drauf sind, rechnen. Alle, die schlecht drauf sind, rechnen. Alle, die nicht rechnen können oder wollen, machen sich Gedanken, wie sie am nächsten Tag wieder gut drauf sind. Zur semizerstörten Physis gesellt sich eine achterbahnfahrende Psyche.
Jeder Betriebsarzt würde ausflippen
Und dann bimmelt wieder der Wecker, vier Stunden vor dem neuerlichen Startschuss. In Rom also um 5.30 Uhr - nach vier Stunden Schlaf und einem ersten 15-Stunden-Tag. Gut, dass Zehnkämpfer nicht gewerkschaftlich organisiert sind. Jeder Betriebsarzt würde ausflippen. Jeder Doktor eine Kur verschreiben. Aber es geht weiter. In den nächsten 15-Stunden-Tag.
Einer hat den Schuss nicht gehört
Und einer, der plötzlich richtig weit vorn liegt, der Franzose Gletty, hört den Schuss nicht. Alle toben los, er steht auf, verdutzt, guckt, rennt hinterher. All die Arbeit vernichtet, im Moment einer Sekunde. Dem Einwand einer externen Störung wird zum Glück stattgegeben und er darf seinen Lauf wiederholen. Allein gegen die Uhr. Er läuft Bestzeit. Das muss man erstmal machen.
Es geht ja auch barfuß ...
Im Diskuswurf ist der Ring ein wenig rutschig und die Schuhe von Darko Pesic aus Montenegro auch. Rutsch und Rutsch ist Doppelflutsch. Also zieht er Diskusspezialschuhe und Socken aus und wirft barfuß. Barfuß. Ohne Schuhe. Und dreht und wirft. Nur zweieinhalb Meter unter Bestleistung. Irre.
Er kann's einfach: Mayer hat Nerven aus Stahl
Stabhochsprung. Es gibt den normalen Zehnkämpfer, der seine Anfangshöhe mit Arschbombe schafft und in der B-Note Abzüge bekäme. Schön oder hässlich ist egal, deshalb muss er nur rüber. Und dann gibt es die Kevin Mayers der Szene, die das können. Und die fangen hoch an. Der Weltrekordler bei 5,00 Metern. Der erste Versuch ungültig, der zweite ungültig. Wenn er den dritten reißt, war alles umsonst. Alles. Nur wegen dieses einen Fehlers.
2017 ist er so schon mal Weltmeister geworden. Anfangshöhe im dritten. Nervenkrieg pur. Aber er schafft es. Nur so am Rande: Bei denen, die das können, ist vollkommen egal, was draufliegt. Die können nämlich keine Arschbombe. Wenn die nicht über 5,00 Meter kommen, dann hätten sie 4,60 Meter auch nicht gepackt, weil das Timing nicht stimmt.
Fähigkeiten, die beflügeln
Und dann kommt das Speerwerfen. Die Disziplin des Titelverteidigers. Niklas Kaul. Er muss immer einen raushauen. Das ist so verlangt. Von allen anderen und von ihm selbst. Es ist mitunter eine Last, wenn man als Athlet weiß, ich muss hinten alles rausholen. Aber auch eine Lust. Solche Fähigkeiten beflügeln. Alles dicht gedrängt und das Feld rückt zusammen. Bis Johannes Erm im letzten Versuch noch mal über fünf Meter draufpackt.
Zehnkämpfer sind Masochisten
Zack, das war der Titel. Wenn er sich nicht verläuft. Aber auch der Weg ist ausgeschildert. Doch nach nunmehr 36 Stunden Dauerbelastung mit einigen Unterbrechungen kann die Verlässlichkeit und Geschmeidigkeit der Arbeitsmuskulatur abhanden kommen.
21 Mann stehen gegen kurz vor 23 Uhr an der Linie zum finalen Kraftakt. 1.500 Meter. Die Hosen voll haben, sich der Aufgabe stellen, alles geben. Ein bewusstseinserweiterndes Martyrium. Wer sich dieser Prüfung hingibt und alles aus sich rausholt, der ist Masochist oder Zehnkämpfer.
Einer der besten Zehnkämpfe auf europäischer Ebene
In diesen zwei Tagen sind nur drei Zehnkämpfer nicht ins Ziel gekommen. Eine rekordverdächtige Quote. Bei der WM 1997 sind von 38 Athleten nur 20 ins Ziel gekommen. Und das waren nicht die Tribute von Athen. Auch das war nur Zehnkampf.
Alle vier Deutschen stehen erschöpft im Ziel und staunen über sich selbst, wie viel sie in diesen zwei Tagen ertragen konnten. Es war einer der besten Zehnkämpfe auf europäischer Ebene. Die Punktzahlen sind enorm, der Este Johannes Erm krönt sich zum König Europas und wird von seinen Gefühlen geschüttelt. Der Norweger Sander Skotheim sichert sich nach großem Patzer im Stabhochsprung die Silbermedaille.
Unendliche Zehnkampf-Geschichten
Und da sind wir wieder bei der Eingangsfeststellung: Es ist schon verrückt. Man macht viele Fehler, muss immer wieder zurückkommen, Perfektion gibt es selten, aber dieses Abenteuer ist perfekt und Geschichten gibt es viele. Immer wieder.