Kristian Bjornsen enttäuscht
analyse

WM-Gastgeber vor dem Aus Handball-Frust in Norwegen - Hat ein Verein das Nationalteam ruiniert?

Stand: 21.01.2025 05:36 Uhr

Bei der Handball-WM in Dänemark, Norwegen und Kroatien brodelt es im norwegischen Team. Der Co-Gastgeber bekommt nach zwei bitteren Pleiten in der Vorrunde die volle Breitseite der Medien ab, auch in der Mannschaft um Superstar Sander Sagosen stimmt es offensichtlich nicht.

Von Julie Bärthel und Christian Hornung

Es sollte ein Rekordspiel werden, eins bei dem die 11.345 Zuschauen in Oslo am Ende eine Party gegen Portugal feiern sollten. Die Zuschauerbestmarke für ein Heimspiel der Nationalmannschaft gelang, die Party wurde zum Albtraum: 28:31 verlor das Team vor den Augen von Kronprinz Hakan und dessen Frau Mette-Marit. Vier Tage zuvor sah König Harald V. bei der 26:29-Blamage gegen Brasilien zu, die die heimische Presse als "Fiasko" bezeichnete. Der Vize-Weltmeister von 2017 und 2019 steht damit bei der Heim-WM vor dem Aus, das Team von Trainer Jonas Wille nimmt null Punkte mit in die Hauptrunde.

Jetzt gegen Spanien und Schweden

Ein Blick auf die Gegner in der Hauptrunden-Gruppe III gibt allen Pessimisten in Norwegen weitere Nahrung. Mit Spanien und Schweden warten zwei Mannschaften, die in ihrer aktuellen Form klare Favoriten gegen das taumelnde Star-Ensemble sind.

Dabei sah die Zukunft des norwegischen Handballs vor ein paar Jahren noch äußerst vielversprechend aus. Nach zwei verpassten Weltmeisterschaften (2013 und 2015) und enttäuschenden Resultaten bei den Europameisterschaften 2012 und 2014 (13. und 14. Platz) ging ein Jahr später ein Handball-Hype durch Norwegen - zur Abwechslung mal nicht wegen der großen Erfolge der Frauenmannschaft.

"Vergesst Fußball und Eishockey", schrieb die Tageszeitung "Dagbladet" nach dem historischen Halbfinaleinzug bei der EM 2016 in Polen: "Nur die Handballjungs haben's drauf." Danach ging es steil bergauf, Stars wie Magnus Röd oder Kent Robin Tönnesen begeisterten auch in der Bundesliga. Bis 2023 beendete die Nationalmannschaft der Norweger jedes Turnier in den Top 7. Doch jetzt geht es wohl steil abwärts - für viele Medien und Handball-Experten trägt daran ein sündhaft teures Kunstprojekt die Hauptschuld.

Kolstad-Projekt gerät ins Wanken

Am 31. Oktober 2021 nahm das Projekt "Kolstad IL" glamourös und groß inszeniert vor etlichen Medienschaffenden Fahrt auf, in Trondheim wurden bei einer großen Presse-Show gleich sechs hochkarätige Neuzugänge vorgestellt. Die Idee war kurz zusammengefasst: die Nationalmannschaft in einem Verein zu bündeln und damit international voll durchzustarten. Gesicht des Projekts war der norwegische Superstar Sander Sagosen.

Keiner verkörpert die goldene Generation - die aber noch nie Gold holte - seines Landes so wie der 29-Jährige, der vom großen THW Kiel zu Kolstad IL wechselte. Doch dort fehlt ihm das wöchentliche Kräftemessen auf dem höchsten internationalen Niveau aus der Bundesliga. Und das ist bei seinen Auftritten im Nationalteam bei der Heim-WM nicht zu übersehen.

Selbst in der heimischen Liga nur Zweiter

Das mit hohem finanziellen Aufwand betriebene Projekt zog neben Sagosen noch weitere norwegische Nationalspieler an. Der Klub verpflichtete sie für teils horrende Summen und verrückte Gehälter.

Doch relativ schnell geriet die Sache finanziell ins Schlingern: Sponsoren sprangen ab oder hielten ihre Zusagen nicht ein, die ersten Gehälter blieben aus, wurden später um rund 30 Prozent gekürzt. Auch sportlich läuft es nicht: Selbst in der nationalen Liga ist Kolstad IL aktuell nur Zweiter hinter Elverum Håndball. In der Champions League liegt die Truppe auf Gruppenplatz sieben von acht Teams.

Christian Berge trainierte parallel Kolstad und das Nationalteam.

Keine gute Idee: Christian Berge trainierte parallel Kolstad und das Nationalteam.

Direkter Zusammenhang zum Nationalteam

Mit der Krise der Nationalmannschaft hat all das eine Menge zu tun. Ex-Nationalspieler Frank Löke sagte der norwegischen Tageszeitung "Nidaros": "Ich denke, das Kolstad-Projekt hat die norwegische Nationalmannschaft ruiniert. Die Spieler dort sind im Level gesunken. Die Spieler sind Profis, aber sie haben einen Verein, der sie in die Irre geführt hat. Sie haben Gold und grüne Wälder versprochen, aber tatsächlich hatten sie eine schlechte Saison." Und der ehemalige Kreisläufer steht mit seiner Meinung nicht alleine da.

ARD-Experte Dominik Klein sieht die Sache ähnlich: "Alles, was so künstlich inszeniert wird, ist kritisch zu hinterfragen. Dass da auch Neid aufkommen kann von Spielern, die für die Nationalmannschaft spielen, aber nicht bei Kolstad beschäftigt sind, liegt doch auf der Hand."

Das Projekt hat die norwegische Nationalmannschaft ruiniert.
Norwegens Ex-Nationalspieler Frank Löke

Sögard kritisiert die Kritiker

Nach der Niederlage gegen Brasilien forderte Experte Joachim Boldsen noch während der Live-Sendung des Sender "Viaplay" die Entlassung von Trainer Wille. Die Kritik auch an Kolstad wurde so laut, dass Nationalspieler Göran Sögard Johannessen, ebenfalls bei Kolstad unter Vetrag, ein öffentliches Statement auf seinem Instagram-Kanal abgab.

"Über den Verein, für den ich spiele, wurde fast kein positives Wort verloren, damit muss nun Schluss sein", schrieb der aktuell verletzte Rückraumspieler. "Handball ist Mannschaftsport! Dass man so tut, als könne Sander Sagosen das Nationalteam ganz alleine tragen, ist eine Erniedrigung für den Rest der Mannschaft."

Höchste Blamagegefahr - gegen Chile

Dem lässt sich entgegenhalten, dass der Rest der Mannschaft wenig bis gar nichts dafür tut, einen anderen Eindruck zu erwecken. Drei Chancen hat das schwer angeschlagene norwegische Team nun noch, um irgendwie Schadensbegrenzung betreiben, Fans und Medien zu beruhigen und den König milde zu stimmen.

Erst geht es am Mittwoch gegen Spanien, zum Abschluss wartet am Sonntag Schweden. Dazwischen liegt am Freitag aber noch ein Match, das die Stimmung im Gastgeberland zum Überkochen bringen könnte: Bei einer Blamage gegen die No-Name-Truppe aus Chile wären weder Coach Wille noch die Welle der vernichtenden Kritik zu halten.