Jahr der Schiedsrichter Der Kampf gegen Respektlosigkeit und Gewalt
Ausgerechnet im Jahr der Schiedsrichter sorgen Vorfälle auf deutschen Fußballplätzen für Schlagzeilen. Laufen die DFB-Appelle an Respekt und Fairplay ins Leere?
Es ist eine große Ehre für Sophie Burkhart, wenn die 22-jährige Schiedsrichterin die Trophäe vor dem DFB-Pokalfinale der Frauen zwischen dem VfL Wolfsburg und dem SC Freiburg (Donnerstag 16.45 Uhr/live ARD) auf den Rasen tragen darf. Das Kölner Stadion ist bei diesem Ereignis gut besucht wie nie. Die gebürtige Mainzerin leitet das Endspiel zwar nicht, aber sie rückt deshalb vor Anpfiff in den Fokus, weil sie gewöhnlich Fußballspiele in kleinerem Rahmen pfeift.
Die über die Anerkennung erfreute Burkhart ("wie cool ist es, dass ich das machen darf") kommt gewöhnlich in der B-Juniorinnen Bundesliga oder Landesliga der Männer zum Einsatz. Das Rampenlicht wird für sie angeknipst, um das Bewusstsein "für die Rolle der Schiedsrichter*innen in Deutschland sowie deren rückläufige Anzahl zu schärfen und gleichzeitig dafür zu sorgen, mehr Verständnis und Respekt gegenüber den Unparteiischen aufzubringen", heißt es beim Deutschen Fußball-Bund (DFB). Der größte Einzelsportverband der Welt hat das "Jahr der Schiris“ ausgerufen.
Ein Vater drohte einem jungen Schiedsrichter, ihn "zu köpfen"
Der Handlungsbedarf ist groß. Mit der Initiative sollen die latenten Probleme, in Form von Respektlosigkeiten, Übergriffen oder dem Mangel an Referees, bekämpft werden. Der Verband sieht hier alle Beteiligten in der Verantwortung. Die Verrohung der Sitten ist nicht gestoppt, bloß weil der DFB den Startknopf für die breitflächige Kampagne drückte. Negativer Höhepunkt neuerlicher Vorfälle: die Drohungen beim Kreispokal-Finale der C-Jugendmannschaften zwischen den beiden Frankfurter Klubs FC Germania 1911 Enkheim und dem FC Kalbach am 1. Mai dieses Jahres.
Nach dem Abpfiff war ein Vater der unterlegenen Kalbacher auf das Spielfeld gerannt und drohte dem minderjährigen Schiedsrichter, ihn zu köpfen. Der Fall schlug bundesweite Wellen, weil die Schiedsrichtervereinigung Frankfurt die von einer Handykamera gefilmte Sequenz auf Instagram veröffentlichte. In Windeseile verbreitete sich das Video, sorgte bundesweit für Bestürzung - und für einen heftigen Streit der Funktionäre auf Amateurebene.
Goran Culjak stellte das Video ins Netz
Der Frankfurter Schiedsrichterchef Goran Culjak hatte eigenmächtig entschieden, die heftige Verbalattacke ins Netz zu stellen. Culjak leitet seit 2020 die mit 300 Schiedsrichtern größte Vereinigung Hessens. Daraufhin schimpfte der Frankfurter Kreisfußballwart Rainer Nagel zunächst, dass das Video ohne Absprache veröffentlicht worden sei. Mittlerweile hat der Hessische Fußball-Verband (HFV) sich des Falls angenommen, der am 25. Mai vor dem Verbandssportgericht verhandelt wird.
Es ist ein Präzedenzfall, der hinter den Turbulenzen von Eintracht Frankfurt an allen Fußball-Stammtischen der Rhein-Main-Region am meisten diskutiert wird. Mit entsprechender medialer Begleitung. "Einsam an der Pfeife", titelte die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", die "Frankfurter Rundschau" schilderte in einem Report die teils hanebüchenen Zustände auf Amateur-Fußballplätzen.
Es sind längst nicht mehr nur Einzelfälle
Culjak, der fast ein Vierteljahrhundert selbst Amateurspiele pfeift, ist überzeugt, dass er handeln musste. "Wir Schiedsrichter werden nicht ausreichend geschützt. Wir wollen nicht mehr das notwendige Übel, sondern respektierter Teil des Fußballs sein. Wir haben Spielabbrüche im Wochenrhythmus", sagte er und forderte: "Es muss endlich von den Verbänden gehandelt werden. Jeder Trainer, Spieler, Funktionär und auch Verein muss wissen: Tätlichkeiten werden nicht mehr geduldet."
Richtig in Rage redet sich der Mann, wenn von bedauernswerten Einzelfällen gesprochen wird: "Tatsache ist, dass die Attacken auf Schiedsrichter eher die wöchentliche Regel sind." Wenn man die vom DFB veröffentlichte Zahl von 2.400 Angriffen auf Schiedsrichter nehme und von 40 Wochenenden mit Spielen ausgehe, habe man 60 Vorfälle pro Wochenende. "Ziemlich viele Einzelfälle, oder?", hielt Culjak fest und fragte: "Muss denn ein Schiedsrichter bluten, ins Krankenhaus eingeliefert werden, womöglich noch tot auf dem Platz liegen?"
An der Basis haben sich die Probleme allgemein vergrößert. In der Saison 2021/2022 wurden von 1.455.416 ausgetragenen Spielen 1.219.397 Spiele mit einem Online-Spielbericht erfasst. Bei den erfassten Partien wurden 5.582 Vorfälle, davon 3.544 Gewalthandlungen und 2.389 Diskriminierungen gemeldet. Demnach wurden 911 Spiele aufgrund von Gewalt- oder Diskriminierungsvorfällen abgebrochen. Sowohl die Gesamtanzahl an Abbrüchen als auch ihr Anteil von 0,075 Prozent an allen erfassten Spielen bedeuten Höchststände seit Beginn der Datenerhebung. Seit 2014 lässt der DFB auf Basis der Online-Spielberichte der Unparteiischen ein Lagebild des Amateurfußballs erstellen.
Die Dropout-Quote ist erschreckend
Die Folgen für das deutsche Schiedsrichterwesen sind fatal. Immer weniger machen noch den Job an der Pfeife. Vor zehn Jahren hatte der DFB noch mehr als 70.000 Schiedsrichter gemeldet, doch die Zahl schrumpft Jahr für Jahr. Besonders groß ist das Defizit bei den Frauen, die sich so gut wie gar nicht in dieses Metier wagen. Von den mittlerweile nur noch 50.505 Unparteiischen (Saison 2021/22) sind nur 1989 weiblich - weniger als vier Prozent. In kaum einer Ballsportart ist die Quote derart schlecht.
Weiterhin hören jedes Jahr mehr Referees auf als das neue anfangen. 6.711 Einsteigern standen in der vergangenen Saison 11.237 gegenüber, die ihren Austritt erklären. Ergibt eine erschreckende Dropout-Quote. Viele wollten mit hehren Absichten an der "schönsten Nebensache der Welt" teilhaben, um bald ernüchternd festzustellen, dass sie doch nur Blitzableiter für die Aggressionen sind, die viele Akteure auf dem Sportplatz und oft genug am Schiedsrichter ablassen. Der Fußball hat dieses Problem zwar nicht alleine, aber es tritt hier besonders häufig auf, sagen Experten.
DFB-Vizepräsident Ronny Zimmermann sieht ein gesellschaftliches Problem
"Wir haben ein gesellschaftliches Problem in Umgang, Respekt und Verhalten. Das zeigt sich nicht zuletzt im Fußball", kritisierte der zuständige DFB-Vizepräsident Ronny Zimmermann. Um den Schiri-Mangel zu bekämpfen, will der Verband die generelle Wahrnehmung verbessern. Der Leitsatz soll lauten: "Liebe den Sport. Leite das Spiel." Dazu werden viele Maßnahmen geschaltet, auch um das DFB-Pokalfinale der Frauen. "Ziel ist es, einen Diskurs anzustoßen, stärker zu sensibilisieren und in allen Bereichen ein höheres Verantwortungsbewusstsein für das Thema zu schaffen", erklärt Zimmermann.
"Vor allem die Vereine müssen endlich erkennen, dass sie sich um die Schiris kümmern müssen und dies nicht allein Sache der Verbände ist." Man sei nicht blauäugig: "Wir werden die Welt nicht in wenigen Monaten komplett verändern können bei einer Problemstellung, die schon länger besteht. Aber es soll ein erster wichtiger Schritt sein, die Schiris enger in die Fußballfamilie zu integrieren", so der DFB-Vize.
Der Ansatz soll konsequent konstruktiv sein; es soll nicht mehr heißen: Warum tust du dir das an? Sondern: Darum ist es cool, Schiri zu sein. Eine aktuelle Umfrage im Amateurfußball-Barometer hat ergeben, dass 84 Prozent der Betragten positive Seiten an der Schiedsrichterei erkennen, aber 85 Prozent der aktiven Schiris den mangelnden Respekt von Zuschauern als Problem sehen, 79 Prozent vermissen bei Spielern und Trainern die Wertschätzung. Alarmierende Zahlen.
Der Profifußball liefert oft ein schlechtes Vorbild
Nicht zu unterschätzen ist die schlechte Vorbildwirkung, die auch der bezahlte Fußball liefert. Sich theatralisch am Boden wälzende, ständig gegenüber dem Schiedsrichter protestierende Profis sind genauso schädlich für die Akzeptanz wie lamentierende Trainer, die sich bei der jeder Kleinigkeit beschweren. Und hinterher ihr ständiges Fehlverhalten gerne mit den Emotionen erklären.
Deshalb empfanden es viele Amateurschiedsrichter wohltuend, als Spitzenreferee Deniz Aytekin nach dem DFB-Pokalachtelfinale FSV Mainz 05 - FC Bayern (0:4) den "Gelb-König" Bo Svensson maßregelte, man sei "nicht der Mülleiner der Nation". Aytekin steht mit an der Spitze der DFB-Aktion, um das Image der Schiedsrichter zu verbessern, unter seiner Aufsicht leiteten die Bundesliga-Profis Nils Petersen (SC Freiburg) und Anton Stach (FSV Mainz 05) eine Amateurbegegnung.
Petersen fand es "extrem spannend, eine andere Perspektive einzunehmen". Stach sagte: "Ich hoffe, dass wir mit dieser Aktion nicht nur für mehr Verständnis füreinander sorgen, sondern auch dazu beitragen können, dass mehr junge Leute Lust haben, die Pfeife in die Hand zu nehmen."
Schiedsrichter Deniz Aytekin (re.) erklärt den Profis Anton Stach und Nils Petersen ihre Aufgabe
In der Fairplay-Liga entscheiden die jungen Spieler selbst
Was kann sonst noch getan werden, um ein nachhaltiges Umdenken anzustoßen? Dazu gibt es einige interessante Ansätze. Einen davon hat Ralf Klohr von SG Mußbach in der Nähe von Neustadt an der Weinstraße in einer so genannten Fairplay-Liga erfunden, wo Kinder ohne Eingriff von Referees, Trainern oder Eltern selbst Entscheidungen treffen. Bei den zehn- bis zwölfjährigen D-Junioren müssen sich die Akteure selbst über Einwurf, Abstoß oder Ecke einigen, damit die oft jungen Referees entlastet werden.
Die Idee ist, dass sich ein Bewusstsein über strittige Szenen und eine rasche Kompromissbereitschaft herausbildet. Das kann, muss aber nicht funktionieren. Trainer und Eltern können natürlich die Kinder darauf schulen, sich das Recht des Stärkeren herauszunehmen. Klohr glaubt an sein bereits 2012 aufgelegtes und mit dem Egidius-Braun-Preis prämiertes Projekt, um das Problem an der Wurzel packen.
Einige Kreise in Hessen führen gerade Tests damit durch, denn die neue DFB-Vizepräsidentin Silke Sinning aus dem Hessischen Fußball-Verband (HFV) steht dahinter. Die Sportwissenschaftlerin aus Hessen will bei einem Treffen am kommenden Montag (22.05.2023) auch Präsident Bernd Neuendorf davon überzeugen, mit der Ausweitung der Fairplay-Ligen das gegenseitige Verständnis auf bundesweiter Ebene zu fördern, wenn Kinder und Jugendliche bei ihren Spielen früh eine Art Demokratieverständnis lernen.