Schiedsrichter-Experte Warum pfeift keine Frau bei der EM, Herr Wagner?
Sportschau-Experte Lutz Wagner, Schiedsrichter-Lehrwart beim Deutschen Fußball-Bund (DFB), spricht im Interview offen über alle Reiz-Themen vor der EM: ein Schiedsrichter-Team ohne Frauen, die Dauer des Videobeweises, das Meckern der Kapitäne - und einen Regel-Mythos, der viele ärgert.
Sportschau: Die UEFA hat 18 Schiedsrichter für die EURO nominiert, alle sind Männer. Warum ist keine einzige Frau dabei wie beispielsweise Stephanie Frappart aus Frankreich, die schon bei der WM in Katar gepfiffen hat, oder Rebecca Welsh aus England?
Lutz Wagner: "Die Nominierung der Schiedsrichter erfolgt durch die UEFA und nicht durch die Nationalverbände. Hierbei geht die UEFA nach strikten Leistungskriterien der vergangenen Saison und hat nur den jeweiligen Ersten von auch nur wenigen Ländern sowie in Sonderfällen einen zweiten Schiedsrichter aus diesem Land nominiert. Zudem kommt als 19. Team ein Gast-Team aus Südamerika. Da es nicht so viele Spiele sind wie bei der Weltmeisterschaft, wird somit auch eine geringe Anzahl an Schiedsrichtern nominiert."
Die spannendste Neuerung bei der EM dürfte sein, dass nur noch die Kapitäne den Schiedsrichter ansprechen dürfen - alle anderen Spieler sollen bei Meckern sofort Gelb bekommen. Wie bewerten Sie das?
Wagner: "Diese Möglichkeit der Kommunikation wurde seitens der UEFA getestet, um mehr Transparenz bei den Entscheidungen zu erzeugen. Hier wird dem Kapitän eine Möglichkeit gegeben, nachzufragen, aber dies ist dann auch nur auf diese eine Person bezogen. Damit sollen die Möglichkeit für eine sachliche Kommunikation geschaffen und große Zusammenkünfte mit ellenlangen Diskussionen ausgeschlossen werden."
Glauben Sie, dass diese Regel zu einer Flut von Karten und in der Folge dann auch zu Platzverweisen führt? Oder brauchen die Profis einfach diese klaren Vorgaben und werden sich dann disziplinieren?
Kapitäns-Meckern: "Nach kurzer Zeit wissen alle Bescheid"
Wagner: "Ich glaube nicht, dass es zu einer Flut von Karten kommt, ganz im Gegenteil. Ich glaube eher, dass das nach einer kurzen Eingewöhnungszeit sehr schnell von den Spielern angenommen und berücksichtigt wird. Zudem wurde es ja auch den betreffenden Mannschaften im Vorfeld mittels einer Schulung vor Ort im jeweiligen Trainingscamp mitgeteilt. Es wird bestimmt die eine oder andere Sanktion geben, aber nach kurzer Zeit wissen alle Bescheid."
In der abgelaufenen Bundesliga-Saison war die Dauer von Abseits-Überprüfungen immer noch ein Nerv-Thema, manchmal dauerte es bis zu drei Minuten. Warum geht es nicht schneller?
Wagner: "Auch wenn es den Zuschauern hier nicht so vorkommt, ist Deutschland das Land mit den am schnellsten abgewickelten VA-Prozessen. Allerdings wird gerade der Bereich Abseits international noch viel schneller und besser ablaufen, da hier die halbautomatische Abseitserkennung zum Einsatz kommt. Das heißt, es muss weder eine Linie händisch vom VA gezogen, noch ein entsprechendes Lot bei einem vorstehenden Körperteil manuell gefällt werden - das alles macht der Computer in Sekundenschnelle, sodass die Unterbrechungen viel kürzer werden."
Welche Dauer für diese Spielunterbrechungen halten Sie für vertretbar? Werden wir vielleicht schon bei der EURO soweit sein, dass wir in den Bereich von einer Minute kommen?
VAR - "Lieber etwas später richtig, als zu früh falsch"
Wagner: "Zurzeit liegt die durchschnitte Unterbrechungszeit in Deutschland bei circa 85 Sekunden, das Ziel ist natürlich, die Minute zu unterschreiten. International sind wir damit führend, allerdings bei circa zwei bis zweieinhalb Unterbrechungen pro Spiel ist dies dann maximal eine Zeitersparnis von einer Minute. Hier sollte der Grundsatz gelten: Lieber etwas später richtig, als zu früh falsch."
Sollten Ihrer Meinung nach die Schiedsrichter nach Video-Beweisen die Fans direkt über die Stadionlautsprecher ansprechen und die Entscheidung mitteilen, so wie es beispielsweise im American Football gehandhabt wird?
Wagner: "Ich persönlich würde dies sehr befürworten, da es der Transparenz dient, allerdings müssen dazu in allen Stadien gleiche Voraussetzungen geschaffen werden, das heißt einheitliche Bilder auf dem Screen im Stadion sowie ein einheitliches Vorgehen der Schiedsrichter - die das durchaus begrüßen würden."
Noch ein Nerv-Thema: Seit mehr als zwei Jahren gibt es die Regel, dass die Torhüter beim Elfmeter mit einem Fuß auf, über oder hinter der Torlinie stehen müssen. Warum fühlt sich immer noch jeder Unparteiische vor jedem Strafstoß bemüßigt, dieses Szenario den Spielern nochmal neu zu erklären? Ist das Wichtigtuerei? Oder glaubt man ernsthaft, die Profis kennen die Regel immer noch nicht?
Wagner: "Bei dieser Vorgehensweise geht es rein um die präventive Wirkung, um somit gewisse Dinge gar nicht erst entstehen zu lassen. Dies wird nur bei einem Strafstoß angewandt, kostet in der Regel zehn bis 15 Sekunden Zeit - aber wie oft gibt es einen Strafstoß im Spiel? Zudem erinnert es den Torwart in einer Stresssituation noch einmal daran, auf was er achten muss. Letztendlich für den Fan sicher entbehrlich, für den Torwart jedoch ein guter Reminder in einer stressbeladenen Situation."
Ein Regel-Mythos hingegen ist die Sechs-Sekunden-Regel bei den Torhütern. Viele Keeper hielten die Bälle oft deutlich länger in der Hand und wurden praktisch nie sanktioniert. Zuletzt wurde zur Entschärfung über acht Sekunden und dafür aber ein konsequenteres Eingreifen der Schiedsrichter sowie einen Eckball als "Strafe" statt des indirekten Freistoßes diskutiert. Wie wird das bei der EURO gehandhabt?
Wagner: "Dieses zu lange Ballhalten des Torhüters ist allen Beteiligten ein Dorn im Auge. Auch wenn es nur wenige Sekunden sind, so sollte dem entgegengewirkt werden. Mittlerweile haben alle Beteiligten erkannt, dass ein indirekter Freistoß wenige Meter vor dem Tor eine zu harte Bestrafung wäre. Somit wird im Moment getestet, ob es dann nach sechs oder auch acht Sekunden, je nachdem wie die neue Zeit festgelegt wird, einen Ballbesitzwechsel gibt, das heißt der Gegner entweder einen Eckstoß erhält oder einen Einwurf auf Höhe des Geschehens. Eine mit Sicherheit praktikable Lösung, die zurzeit getestet wird. Bei dieser Europameisterschaft wird sie allerdings noch nicht zum Einsatz kommen und damit frühestens im nächsten Jahr auf der Agenda stehen."
Mit Felix Zwayer und Daniel Siebert sind diesmal sogar zwei deutsche Unparteiische nominiert - wo sehen Sie diese beiden von der Klasse und Ausstrahlung her im Vergleich mit den anderen Top-Schiedsrichtern aus Europa?
Die beiden deutschen Schiedsrichter bei der EM: Daniel Siebert (links) und Felix Zwayer
"Siebert und Zwayer gehören zur Elitekategorie"
Wagner: "Unsere beiden Vertreter Daniel wie auch Felix sind der Elitekategorie der UEFA zugehörig. Das heißt, sie gehören zu den wenigen Schiedsrichtern, die alle Spiele bei allen europäischen Wettbewerben leiten können und dürfen. Sie gehören damit zu den absoluten Spitzenleuten und allein die Anzahl von zwei nominierten Schiedsrichtern zeigt die Wertschätzung, die Deutschlands Referees im Ausland genießen. Daniel Siebert hat als ehemals guter Fußballer ein exzellentes Gespür für Zweikämpfe. Felix Zwayer ist mit einer sehr hohen Empathie prädestiniert für ein sehr gutes Spielmanagement. Ich bin sicher, dass beide Deutschland sehr gut vertreten werden."
Was wünschen Sie sich aus Schiedsrichter-Sicht für diese EURO? Gibt es Dinge, auf die Sie ganz besonders achten?
Wagner: "In erster Linie erhoffe ich mir eine ähnliche Endrunde wie bei der WM 2006. Dass in Deutschland wieder eine ganz besondere positive Stimmung entsteht, wir jedem beweisen können, welch gute Gastgeber wir sind, und diese Endrunde auch eine Initialzündung für die weiter positive und nachhaltige Stimmung in unserem Land ist. Für die Nationalelf natürlich ein erfolgreiches Abschneiden mit einem möglichst langen Verbleib im Turnier. Den deutschen Schiedsrichtern gute, wichtige und erfolgreiche Spiele, sodass auch im eigenen Land jeder mitbekommt, welch hohe Wertschätzung die deutschen Schiedsrichter weltweit genießen."