Vor dem EM-Viertelfinale Türkei-Trainer Montella - zwischen den Extremen
Er wurde in diesen Tagen der EM schon als 'Mobber' von Superstar Arda Güler verteufelt - und mit Trainer-Legenden verglichen: Vincenzo Montella erlebt mit voller Wucht, was es bedeutet, die Türkei bei einem großen Turnier zu trainieren.
Es war bereits ein neuer Tag angebrochen im Leipziger Stadion, als sich Vincenzo Montella bedankte. "Das macht mich sehr stolz", sagte er. Dabei lächelte der Trainer des türkischen Nationalteams ein Lächeln, das noch mehr verriet als seine Worte. Der 50-Jährige war bewegt, das war zu später Stunde im dämmrigen Presseraum zu spüren.
Der Adressat des Danks war ein britischer Reporter. Er hatte Montella - knapp eineinhalb Stunden, nachdem die Sensationsparade seines Keepers Mert Günok den Viertelfinaleinzug perfekt gemacht hatte - auf ein Podest gehoben. Nicht irgendeines, sondern gleich das höchstmögliche. Er sortierte ihn ein in eine Liga mit Şenol Güneş und Fatih Terim.
"Das sind Monumente des türkischen Fußballs", sagte der Gewürdigte. Sie hatten das Land ins Halbfinale der WM 2002 (Güneş) und der EM 2008 (Terim) geführt und damit zu den größten Erfolgen der Geschichte.
Sein "Signature Jubel" war der Flieger
Nun ist es mit Montella ein Italiener, der vor dem Spiel gegen die Niederlande (06.07.2024, 21 Uhr, Radioreportage und Liveticker) die Hoffnungen auf Historisches beflügelt.
2021 hatte er den Schritt in die Türkei gemacht. Zunächst in die Süper Lig zu Adana Demirspor. Schwierig sei diese Entscheidung gewesen, gab er in diesen Tagen zu. Doch er wählte bewusst die Herausforderung abseits der Heimat.
Italien war - mit zwei Mini-Ausnahmen - zuvor immer auch das sportliche Zuhause des Spielers und Trainers Montella gewesen. "Aeroplanino" nennen sie ihn dort liebevoll, kleines Flugzeug. Klein, das versteht jeder direkt, der Montella sieht. Er misst gerade einmal 1,72 Meter.
Flugzeug, das kommt von seinem "Signature Jubel", dem "Siuuuu" des Italiens der 90er- und 00er-Jahre gewissenmaßen. Der Mann aus Kampanien breitete stets die Arme aus und schwebte losgelöst durch die italienischen Stadien, wenn er nach seinen Toren abdrehte - und das tat er oft: 141 Mal traf er allein in 288 Einsätzen in der Serie A.
Nachfolger des deutschen Trainers Stefan Kuntz
Der für Montella ungewohnte, vielleicht auch zunächst unbequeme Weg als Trainer in die Türkei sollte sich auszahlen. Er führte Adana Demirspor als Aufsteiger in die erweiterte Spitze. Als der türkische Verband dann in der EM-Qualifikation den deutschen Coach Stefan Kuntz entließ, war der Italiener kein besonders überraschender Nachfolger mehr.
Die Teilnahme an der EM 2024 machten Montella und sein Team in der Folge vorzeitig klar und ein damals wankendes Deutschland bezwang die Türkei im Winter im Olympiastadion. Danach lief nicht mehr viel zusammen. Gegen Österreich gab es gar ein 1:6-Debakel. Plötzlich sollte er über einen möglichen Rücktritt reden. Montella boykottierte diese Diskussion und fuhr als erster ausländischer Trainer mit der Türkei zu einer EM.
Mit Arda Güler fast in den Abgrund
Es sind Momente, die der 50-Jährige nicht vergessen hat. Und so mögen auch sie durch seinen Kopf geschossen sein, als der britische Journalist ihn in der Nacht von Leipzig neben Şenol Güneş und Fatih Terim erhob. Montella kennt nicht nur das Podest. Er weiß auch zu gut, wie der Abgrund aussieht - und dass beides oft eng beieinander liegt.
Aus seiner jahrzehntelangen Spieler- und Trainerkarriere in Italien, aus einem knappen Jahr als türkischer Nationalcoach - und auch ganz konkret aus der Zeit bei der EM. Da trennten nämlich nur zehn Tage die Extreme: Den gefeierten Triumph gegen die Österreicher und den zweiten Spieltag in der Gruppe F, an dem die Türkei gegen Portugal verlor.
Nach dem 0:3 brodelte es heftig. Weniger wegen der Niederlage an sich als vielmehr wegen Arda Güler. Montella hatte den 19-jährigen Jungstar von Real Madrid - von den türkischen Fans und Medien so sehr vergöttert, dass Cristiano Ronaldo zu Recht eifersüchtig werden könnte - 70 Minuten auf der Bank sitzen gelassen. Damit begann ein Drama.
Verbandspräsident muss Montella stärken
Zentral darin: Ein Trainingsvideo, in dem Montella Güler ein Leibchen wegnahm und in den sozialen Netzwerken damit - salopp gesagt - für die wütende Gewissheit sorgte: "Dieser Mann mobbt unseren Arda". Am Ende musste offiziell der Verbandspräsident einschreiten, der das (Internet-)Rumoren als "böswillige und schmutzigen Kampagne" verurteilte.
Montella selbst wurde derweil auch unter Druck nicht laut. Schließlich, sagte er, habe er den "seit mehr als 30 Jahren. Druck gehört zu unserer Arbeit und den muss man managen können." So antwortete er immer ruhig, immer bestimmt und immer auf italienisch. Gebetsmühlenartig wiederholte er, dass Güler nicht länger habe spielen können. Dass es eine Entscheidung der Ärzte gewesen sei. Kurzum: dass er gar keine andere Option gehabt habe.
Eigener Dolmetscher für alle Fälle
Damit diese Botschaften auch wirklich ankommen, hat Montella stets seinen eigenen Dolmetscher an der Seite. Auch auf den Podien bei den Pressekonferenzen, wo normalerweise die UEFA die Vielsprachigkeit mit ihren Leuten orchestriert. Montellas Mann hört zu, er präzisiert, er ergänzt. Ob er so letztendlich durchdrang? Unklar. Am Ende waren es weniger Worte, die halfen. Es waren zwei Siege - mit Arda Güler in der Startelf.
Sie machten den angeknockten Montella zur Geschichte, in der Gegenwart ist er vor dem Viertelfinale gegen die Niederlande der Bejubelte. Eine Verwandlung im Eiltempo. Das klingt übertrieben, aber genauso läuft es nun einmal. Plötzlich wirkt alles anders. Die Personal- und Systemwechsel zum Beispiel? Vorher Anlass für Kritik, nun eine Qualität des Trainers.
Der äußerte sich zwar trotzdem voller Unverständnis über die Sperre Merih Demirals nach der Wolfsgruß-Geste ("Wir denken, dass sie unfair ist. Das war keine politische Botschaft, es wurde aber als eine solche interpretiert."), machte sich um den sportlichen Ersatz aber keine allzu großen Sorgen. "Bis jetzt haben es alle Ersatzspieler gut gemacht. Ich bin deswegen sehr ruhig", sagte der türkische Coach am Vorabend des Spiels im Olympiastadion.
Arda oder Montella: Wer hat den besseren linken Fuß?
Die Pressekonferenz endete übrigens nicht mit Demiral. Es ging - wie so oft im türkischen Team - um Arda Güler. Ob Gülers linker Fuß ihn an irgendeinen Mittelstürmer mit großem Talent erinnere, wurde Montella gefragt. Der 50-Jährige, der sonst eher lächelt, lachte locker. "Vielleicht ist er etwas softer als meiner", antwortete er.
Der Trainer mag in diesem Moment vielleicht auch an alte "Aeroplanino"-Flugtage gedacht haben. Auf jeden Fall genießt er, wie leicht sich das Leben auf dem Podest neben Şenol Güneş und Fatih Terim anfühlt.