Gegen die Niederlande Seiwald ist Österreichs Sechser im Lotto
Nicolas Seiwald ist der Fixpunkt im defensiven Mittelfeld Österreichs. Er passt perfekt zum Spielstil seines Trainers Ralf Rangnick - und der lobt ihn in den höchsten Tönen. Da kann sein niederländischer Kollege Ronald Koeman glatt neidisch werden.
Die Schlagzeilen hatte Nicolas Seiwald nicht bestimmt. Da glänzten - wie so oft - andere, allen voran Christoph Baumgartner. Kein Wunder, schließlich hatte er Österreich mit seinem Tor gegen Polen und dem Jubellauf in Ralf Rangnicks Arme so sehr beseelt, dass die österreichische Fußballlegende Herbert Prohaska in der auflagenstärksten Tageszeitung des Landes prompt eine Statue vor dem Ernst-Happel-Stadion für ihn forderte.
Prohaskas Kolumne in der "Kronen Zeitung" taugt - zumindest in diesem Fall - als Seismograph für die Stimmung in Österreich. Und die ist spürbar gelöst vor dem dritten Gruppenspiel gegen die Niederlande am Dienstag (25.06.2024, 18 Uhr, Radioreportage und Liveticker).
Das zeigte sich auch, als Trainer Rangnick und sein Kapitän Marko Arnautovic - für Prohaska übrigens ein Kandidat für eine Statue gleich neben Baumgartner - am Vortag des Spiels das Pressepodium im Olympiastadion betraten. Das Frage-Antwort-Spiel dauerte beinahe 30 Minuten und war phasenweise lustiger als manch ein Comedy-Programm.
Seiwald: Seit 17 Länderspielen keine Minute verpasst
In dem wäre Seiwald eher fehl am Platz. Der defensive Mittelfeldspieler ist kein Entertainer à la Arnautovic. Im Gegenteil: Als er sich bei einer der vielen Medienrunden während der EM in Berlin den Journalisten stellte, wirkte er introvertiert, fast schüchtern. Er rutschte leicht auf dem Stuhl hin und her, sagte ein paar Worte, um sich dann selbst zu unterbrechen und - verlegen lächelnd - höflich nachzuschieben: "Hallo erstmal. Tschuldigung."
Auf dem Platz ist Seiwald weitaus routinierter, ja er ist auf der Doppelsechs unverzichtbar für Österreich. Als einziger Spieler stand er bereits in allen acht Spielen der EM-Qualifikation über 90 Minuten auf dem Platz. Insgesamt dauert diese Serie nun sogar schon 17 Spiele an. Es ist also folgerichtig, dass Seiwald auch bei seinem ersten großen Turnier weder gegen Frankreich noch gegen Polen auch nur eine Minute verpasste.
Rangnick: "Sehr aggressiver, aber auch abgeklärter Eindruck“
Er spielte dabei so gut, dass Rangnick ihn persönlich adelte: "Nici Seiwald hat für mich sein bestes Spiel gemacht seit ich jetzt Teamchef bin", sagte er nach dem 3:1-Erfolg gegen Polen, als alle über Baumgartner und Co. redeten und schrieben. Und er schob noch eine Erklärung hinterher: "Wenn man bedenkt, dass er in Leipzig gar nicht viel spielt. Wie alt ist Nici? 21? Dafür war das ein sehr aggressiver, aber auch abgeklärter Eindruck."
Am Lob des Trainers stimmte nur fast alles. Der Fehler? Seiwald ist zwar der drittjüngste Spieler im Kader des ÖFB, aber doch schon älter, als Rangnick es in diesem Moment vermutete. Zwei Jahre, um genau zu sein. Was der Coach sonst über den - Achtung - 23-jährigen Rotschopf sagte, war hingegen zweifellos richtig.
Seiwald lief in den ersten beiden Spielen gewohnt viel. Er fand - mit einer Passquote von jeweils 95 Prozent - seine Teamkollegen besser als jeder andere Spieler auf dem Feld. Er gewann immerhin rund die Hälfte seiner Zweikämpfe - und foulte dabei nicht ein einziges Mal.
Bei RB Leipzig noch oft außen vor
Und dass, obwohl er eine komplizierte Saison hinter sich hat. In seinem ersten Jahr bei RB Leipzig konnte sich der 20-Millionen-Neuzugang kaum zeigen. Lediglich sechs Mal durfte er in der Bundesliga starten, zudem drei Mal in der Champions League. Ausgerechnet an seinem österreichischen Landsmann Xaver Schlager kam er auf der klassischen Sechser-Position nicht vorbei, bis sich dieser im Saisonendspurt das Kreuzband riss.
In Leipzig brachte ihm das - auf unglückliche Weise - mehr Spielzeit. Im ÖFB-Team einen neuen Nebenmann. Eigentlich sind Seiwald und Schlager im Nationalteam nämlich ein Duo. Bei der EM füllte bislang der Hoffenheimer Florian Grillitsch die Lücke.
Seiwalds Rolle sei durch den Ausfall von Schlager "noch wichtiger geworden", sagte Rangnick, "wir haben nicht so viele Spieler, die ihre Stärken genau in diesem Bereich haben".
Zudem hat Seiwald die Vorstellung des ÖFB-Coaches vom Fußball perfekt verinnerlicht. "Nici hat die Art und Weise, wie wir spielen, mit in die Wiege gelegt bekommen", sagte der 65-Jährige. Oder anders formuliert: Er hat die RB-DNA.
Seit der U9 durchlief er die Salzburger Akademie. Rangnicks Pressing- und Umschaltfußball ist auch seiner. "Dazu ist er trotz seiner jungen Alters jemand, der durch seine Spielweise und die Art, wie er auf dem Spielfeld coacht, Führungsqualitäten mit sich bringt", sagte Rangnick.
Frenkie de Jong fehlt den Niederländern spürbar
Dass Seiwald auch gegen die Niederlande wieder starten wird, ist also eine Wette ohne Risiko. Und um diese personelle Sicherheit dürfte sein Trainerkollege Ronald Koeman Ralf Rangnick beneiden. Denn das defensive Mittelfeld der Niederländer gleicht bei der EM bislang einer Baustelle, die nicht rechtzeitig zum Turnierbeginn fertig wurde.
Dabei hat eigentlich auch Koeman seinen Seiwald auf der Doppelsechs. Nicht im engen taktischen Sinne, aber wenn es um die Bedeutung geht. Doch Führungsspieler Frenkie de Jong vom FC Barcelona fällt mit lädiertem Knöchel aus. Bei den letzten beiden großen Turnieren - der paneuropäischen EM 2021 und der WM 2022 in Katar - hatte der 27-jährige Star der Niederländer noch jedes Spiel gemacht. Er gewann jeweils mehr als 60 Prozent seiner Zweikämpfe, hatte viel den Ball und verteilte ihn klug nach vorne.
Koemans Experimentierfeld Doppelsechs
"Das ersetzt man nicht so eben mit einem anderen Spieler", hatte auch Ex-Nationalspieler Rafael van der Vaart unmittelbar vor dem EM-Start in seiner Kolumne in der Tageszeitung "De Telegraaf" gewarnt. Und er sollte bislang Recht behalten. Denn die Vertreter tun sich noch schwer. Zumal mit Teun Koopmeiners und Marten de Roon von Europa-League-Sieger Atalanta Bergamo zwei weitere erfahrene Optionen verletzt fehlen.
Im ersten Duell gegen Polen durfte - wie im Testspiel Ende März gegen Deutschland - das Duo Jerdy Schouten und Joey Veerman des niederländischen Meisters Eindhoven auflaufen. Sich empfehlen konnte nur Schouten mit einer Zweikampfquote auf Seiwald-Niveau, wenigen Fehlpässen und viel Ruhe. Er blieb also für die Partie gegen Frankreich.
Die Lösung ist noch nicht gefunden
Für Veerman hingegen rückte Tijjani Reinjders von der Zehner- auf die Sechserposition. Der 25-Jährige, in seinem italienischen Klub AC Mailand im 4-3-3 zumeist auf der linken Seite zu Hause, fand aber auch nicht richtig in die Rolle. Offensiv war er um seine Qualitäten beraubt, in den Zweikämpfen sah er ähnlich schlecht aus wie Veerman zuvor.
Wie Koeman seine Problemzone gegen Österreich sortieren wird, ist noch offen. Sicher ist aber, dass ihm diese Aufgabe mehr Kopfzerbrechen bereiten wird als Rangnick seine Doppelsechs. Da wird Seiwald wieder sein Spiel machen. Dass ihn dieses in die Schlagzeilen bringt? Unwahrscheinlich. Und doch wissen sie in Österreich alle, was sie an ihm haben.