Rücktritt aus Nationalmannschaft Ilkay Gündogan - feiner Fuß, feines Gespür und ein Signal
Ilkay Gündogan hat mit seinem Rücktritt aus der Nationalmannschaft ein feines Gespür bewiesen und das richtige Signal gesetzt. Es ist an der Zeit, dem "Team Perspektive" Platz zu machen.
Dort, wo Ilkay Gündogan aufgewachsen ist, zeugen die Häuser von der Vergangenheit des Ruhrpotts. In der Zechensiedlung in Gelsenkirchen stehen die dunkelroten Backsteinhäuser nebeneinander, die Gärten liegen auf der anderen Seite der Straße. Ilkay Gündogan sei tagsüber meistens bei Oma und Opa gewesen, während die Eltern gearbeitet hätten, hieß es mal von einem Nachbarn, der als Bergmann malocht hatte, aber schon längst in Rente war, als Ilkay Gündogan und dessen Freundinnen und Freunde den Ball immer wieder vor das Garagentor geschossen hätten. "Da war nix mit Mittagsschlaf. Aber ich habse machen lassen. Die wollten immer nur pöhlen."
Der Fußball, den Ilkay Gündogan spielte, wurde nie mit Maloche in Verbindung gebracht. Er war schon immer der "feine Fuß", von dem Bundestrainer Julian Nagelsmann nun schwärmte, als sein Kapitän bekanntgegeben hatte, nach 82 Länderspielen nicht mehr für die Nationalmannschaft spielen zu wollen.
Ilkay Gündogan ist mit herausragendem Talent gesegnet, aber die Gnade der frühen Geburt fehlte ihm. Er wird am 24. Oktober 34 Jahre alt, wurde also im vierten Quartal geboren. Die Kader der deutschen Nationalmannschaften belegen immer noch, dass es den "Relativen Alterseffekt" gibt, der bei stichtagsbezogener Einteilung die Frühgeborenen bevorteilt. In der deutschen U21 etwa sind nur acht von 23 Spielern in der zweiten Jahreshälfte geboren, bei der U18 sogar nur fünf von 22.
Nachteil der späten Geburt
Ilkay Gündogan hätte das die Karriere kosten können, denn vom FC Schalke 04 wechselte er schon nach einem Jahr in der E-Jugend wieder zurück zum SV Gelsenkirchen-Hessler, seinem Heimatverein. Gündogan war körperlich zu schwach und häufiger verletzt, die Frühgeborenen waren ihm im Ist-Zustand weit voraus.
Beim Deutschen Fußball-Bund haben sie längst erkannt, dass Kinder und Jugendliche viel mehr nach ihrem Potenzial bewertet müssen. Weil das früher anders war, sind vermutlich zig außergewöhnliche Talente verloren gegangen. Ilkay Gündogan aber hat es dann doch noch geschafft, über den VfL Bochum, den 1. FC Nürnberg und Borussia Dortmund hin zu Manchester City und dem FC Barcelona, hin zum Kapitän der Nationalmannschaft.
Welche Ehre es ihm war, die Eliteauswahl des DFB bei der Europameisterschaft in Deutschland auf den Platz zu führen, hatte er schon während des Turniers mehrmals und vor allem sehr glaubwürdig dargelegt. Er wiederholte es nun in seinem Statement zum Rücktritt.
Ilkay Gündogan hat einen feinen Fuß und auch ein feines Gespür, für die richtigen Worte und auch für den richtigen Zeitpunkt. Seine Klasse hätte gereicht, um die Nationalmannschaft zur Weltmeisterschaft 2026 in den USA, Kanada und die USA zu führen. Beim Turnier selbst wäre er aber schon fast 36 Jahre alt gewesen, und die Diskussionen, ob es nicht vielleicht doch besser wäre, Kai Havertz von der Position des Mittelstürmers auf die "Zehn" zurückzuziehen, die hatte es ja jetzt bei der EURO auch schon gegeben.
Schneller, enger, athletischer: "Eine gewisse Müdigkeit"
Wegen der Reform der Champions League und der aufgeblähten Klub-WM wird es bald für Profis von Topvereinen noch mehr Spiele geben. Hinzu kommen immer längere Nachspielzeiten, die sich auch auf mehrere Spiele pro Saison summieren, und die Fortentwicklung des Fußballs - schneller, enger, athletischer. Das strengt Beine und Kopf an.
Ilkay Gündogan schreibt, dass er "eine gewisse Müdigkeit" verspüre, die ihn schon vor dem Turnier zum Nachdenken gebracht habe. Es war ein kluger Entschluss, jetzt aufzuhören, und es war ein gutes Signal, genau wie es von Thomas Müller eines war, der ebenfalls nach der EM bekanntgegeben hatte, nicht mehr für die Nationalmannschaft spielen zu wollen. Toni Kroos hatte das schon vorher getan.
Perspektive statt Ist-Zustand
Nagelsmanns Kader für die vor allem auch wegen der Außenwirkung so wichtige EM war nach dem Ist-Zustand zusammengestellt. Es ist an der Zeit, ihn nach Potenzial und Perspektive zu nominieren, und insofern hätten Müller und Gündogan Plätze blockiert, die bald dann vielleicht Brajan Gruda und Rocco Reitz einnehmen, geführt von einem Kapitän, der vermutlich Joshua Kimmich heißen wird.
Ob Gruda und Reitz die Erwartungen erfüllen können, ist offen. Youssoufa Moukoko wurde als künftiger Weltstar gehandelt, inzwischen suchen sein Berater und Borussia Dortmund händeringend nach einem Abnehmer. Deutschland hat mit Florian Wirtz und Jamal Musiala nur zwei Spieler unter 25 Jahre, die nachweislich in den kommenden Jahren auf allerhöchstem Niveau spielen können.
Warten auf Neuers Entscheidung
Auf vielen Positionen ist fraglich, wer die Lücken schließen kann. Dazu gehört im einstigen Land der Torhüter auch die Position des Torhüters. Im Kader für die EM war Marc-Andre ter Stegen mit 32 Jahren der jüngste Keeper. Von ihm, der seit mehr als einem Jahrzehnt darauf wartet, bei einem großen Turnier zu spielen, darf niemand erwarten, dass er freiwillig bei der Nationalmannschaft aufhört.
Anders sieht das bei Manuel Neuer aus, der dem Vernehmen nach dieser Tage eine Entscheidung zu einer Zukunft in der DFB-Elf öffentlich machen will. Neuer wird 40 Jahre alt sein, wenn die WM 2026 beginnt. Er würde ein feines Gespür zeigen, würde er seinen Platz im DFB-Kader freigeben für einen Torwart mit Perspektive, der zum Beispiel der Freiburger Noah Atubolu sein könnte.
Ilkay Gündogan hat das richtige Signal gegeben.