Interview im "Spiegel" Nagelsmann setzt auf Kroos und senkt Erwartungen - "keine Topnation"
Comeback von Toni Kroos als Anführer, Rückversetzung von Joshua Kimmich als "Diener" und ein desaströses Zeugnis für die ganze Nationalmannschaft: Bundestrainer Julian Nagelsmann hat in einem ausführlichen Interview mit dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" mit markigen Worten über seine Vorstellungen für die EM 2024 in Deutschland gesprochen.
Außer der schonungslosen Analyse zur Lage der Fußball-Nation oder dem einen oder anderen Seitenhieb gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber FC Bayern München gab Nagelsmann Einblicke in sein Seelenleben nach dem Suizid seines Vaters.
"Ich denke oft an diesen Tag zurück", erzählte der 36 Jahre alte Nagelsmann. "Das war schwer. Mein Papa hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen, es gab keine Erklärung."
Verlust des Vaters mit 20 Jahren durch Suizid
Ein sehr gutes und enges Verhältnis habe er zu seinem Vater gehabt, den er im Alter von 20 Jahren verlor. Der Vater habe ihm die Liebe zu den Bergen und zur Natur vermittelt. Weil der Vater beim Bundesnachrichtendienst gearbeitet habe, durfte er mit der Familie nicht über seine Arbeit reden. "Er war mutig. Er musste im Beruf immer wieder Entscheidungen treffen in dem Bewusstsein, dass der ganze Plan auch in die Hose gehen konnte. Das Schlimmste im Leben ist, wenn man keine Entscheidungen trifft", sagte Nagelsmann.
Vielleicht - so klingt es beim jüngsten deutschen Bundestrainer durch - helfen ihm Wesenszüge seines Vaters nun in seinem eigenen Berufsleben auf der oft gnadenlosen Show-Bühne des Profi-Fußballs. "Ich glaube, ich habe vieles von ihm übernommen. Als Trainer mache ich mir nicht so viele Gedanken darüber, was die Leute von mir oder von meinen Entscheidungen halten", sagte Nagelsmann.
"Die A-Nationalmannschaft liegt seit Jahren sportlich am Boden"
Entscheidungen - auch unpopuläre - muss der Bundestrainer jetzt reihenweise treffen. Die sportliche Lage stuft Nagelsmann nämlich als prekär ein. "Die A-Nationalmannschaft liegt seit Jahren sportlich am Boden. Da war zuletzt nichts dabei, was die Hoffnung nähren könnte, dass wir ins Halbfinale kommen", sagte der Bundestrainer. Was für eine Watschn für sein Personal.
Die Rückkehr von Routinier Kroos (34) als zweitem Rio-Weltmeister nach Mats Hummels (35), den Nagelsmann schon im Oktober reaktivierte, wird nicht die letzte personelle Maßnahme zur Rettung des erhofften Sommermärchens Teil II bleiben. "Wir müssen nicht zehn neue Spieler einladen, aber es wird bestimmt der eine oder andere nicht nominiert werden, von dem viele denken, der sei sicher dabei", sagte Nagelsmann.
Mögliche Streichkandidaten? Die benannte er nicht. Aber Akteure wie Niklas Süle, Leon Goretzka, Julian Brandt oder Jonas Hoffmann oder möglicherweise auch Altmeister Thomas Müller sind vorgewarnt. Nach den bitteren Test-Niederlagen im November gegen die Türkei (2:3) und in Österreich (0:2) müsse ein Mentalitätswandel erfolgen.
Danach habe er realisiert, dass er sich den Job als Bundestrainer ein bisschen anders vorgestellt habe. "Gegen Österreich hatten wir sieben, acht Spieler auf dem Platz, die sich eher über ihre besonderen Fähigkeiten als Fußballer und weniger über eine besondere Mentalität definieren. Diese Verteilung bei der Startelf müssen wir verändern", sagte Nagelsmann.
"Alle waren sehr positiv" über Rückkehrer Toni Kroos
Kroos soll dabei mit seiner Erfahrung vorangehen. Sein Wesenszug, immer wieder kräftig zu polarisieren, könnte ein Risiko sein. Hierarchische Zerwürfnisse fürchtet der Bundestrainer aber nicht. "Ich habe mit vielen Spielern vorab telefoniert und genau zugehört, ob da einer ein Problem mit Kroos haben könnte. Im Gegenteil! Alle waren sehr positiv."
Bundestrainer spricht Status der "Topfußballnation" ab
Grundsätzlich sei nach drei Turnierenttäuschungen mit dem Gruppen-K.o. bei den Weltmeisterschaften 2018 und 2022 und dem Achtelfinal-Aus bei der EM 2021 die Zeit für eine Rückbesinnung notwendig. "Wir müssen unser Statusdenken abstellen. Wir reden uns ein, Deutschland sei eine Topfußballnation, obwohl wir seit Jahren Misserfolge erleben. So kommt man nicht zurück in die Erfolgsspur. Wir müssen endlich anfangen, Fußball wieder zu arbeiten", forderte Nagelsmann. Als Idealtypus nannte er Pacal Groß (32) von Brighton & Hove Albion.
Der könnte also im EM-Plan der Nebenmann von Kroos in der Zentrale sein. Er wäre neben Kroos, Hummels, Torwart Manuel Neuer (37), Kapitän Ikay Gündogan (33) oder Niclas Füllkrug (31) ein weiterer Spieler 30 plus im gleichen Lebensjahrzehnt wie der Bundestrainer.
Kimmich als Rechtsverteidiger ein "Diener für das Land"
Fix ist neben der Rückkehr des Weltmeisters Kroos auch die Versetzung von Kimmich (29) aus dem Mittelfeld auf die Position als rechter Außenverteidiger. Nagelsmanns Worte können den Eindruck einer Strafversetzung nicht ganz verwischen.
"Bei der Nationalmannschaft muss man sich unterordnen. Da ist man ein Diener für sein Land. Kimmich ist das", sagte Nagelsmann über den Bayern-Profi, der längst zum Sinnbild der Generation 1995/96 geworden ist, die die hohen Erwartungen (bisher) nicht erfüllte.
Basketball-Weltmeister als Vorbild
Vor der EM will der Bundestrainer jedem Spieler ein klares Anforderungsprofil vermitteln. Als Beispiel nannte er die Basketball-Nationalmannschaft, die 2023 sensationell Weltmeister geworden war. "Die haben das herausragend gut gemacht, und diese klare Rollenverteilung werde ich übernehmen. Es ist hilfreich, wenn jeder Spieler ganz genau weiß, woran er ist", sagte Nagelsmann.
Grundsätzlich definiere er einen EM-Erfolg nicht nur an der Platzierung. "Ich glaube aber, wenn wir vier oder fünf gute Spiele machen, uns zerreißen, dann jedoch im Viertelfinale gegen eine Topnation ausscheiden, kann es für Fußballdeutschland trotzdem eine gute EM werden", sagte Nagelsmann.
Tests im März gegen Frankreich und die Niederlande
Die letzten Testländerspiele vor der Kader-Nominierung stehen am 23. März in Frankreich und drei Tage später in Frankfurt gegen die Niederlande an. Unmittelbar vor der EM sind nochmals zwei Tests geplant. Beim Turnier trifft die DFB-Auswahl als Gastgeber in der Gruppe A auf Schottland (14. Juni), Ungarn (19. Juni) und die Schweiz (23. Juni).