Nächster Eklat in der Süper Lig Warum Schiedsrichter in der Türkei "wie Freiwild" sind
Erst ein Faustschlag, jetzt ein Spielabbruch aus Protest: Fußball-Schiedsrichter scheinen in der Türkei "zum Angriff freigegeben". Die Probleme sind hausgemacht.
Fußball-Schiedsrichter zu sein, ist überall auf der Welt eine Herausforderung - mancherorts aber eine besondere. "Man muss ehrlich sagen: Der Schiedsrichter ist die arme Sau des türkischen Fußballs", sagt Tuncay Özdamar.
Er ist Leiter der türkischen Redaktion von WDR Cosmo und beobachtet die Süper Lig intensiv. "Die Schiedsrichter werden kritisiert ohne Ende, auch in Fernsehsendungen. Die meisten Fußballkommentatoren sind parteiisch."
Nach den Geschehnissen vom 11. Dezember schien zunächst ein Umdenken einzusetzen. Faruk Koca, Präsident von Ankaragücü, hatte Schiedsrichter Halil Umut Meler mit einem Faustschlag das Jochbein gebrochen - mitten auf dem Platz und vor laufenden Kameras.
Die Folgen des Faustschlags
Der türkische Fußball-Verband (TFF) sperrte Koca lebenslänglich und setzte den Ligabetrieb vorerst aus. "Alle Spieler und Funktionäre, die bei jeder Gelegenheit auf die Schiedsrichter losgehen und nicht wissen, wo das enden wird, sollten darüber nachdenken, was heute Abend passiert ist", sagte TFF-Präsident Mehmet Büyükeksi.
Die Schiedsrichter erhielten plötzlich Zuspruch von allen Seiten, auch von Ecmel Faik Sarialioglu, Präsident von Klub Istanbulspor. "Er hat gesagt, dass man die Schiedsrichter schützen und auf sie aufpassen müsse", berichtet Özdamar. "Aber eine Woche später hat er genau das Gegenteil gemacht."
Präsident erzwingt aus Protest Spielabbruch
Und zwar so: Sarialioglu regte sich am Dienstag im Heimspiel von Istanbulspor gegen Trabzonspor derart über eine Schiedsrichterentscheidung auf, dass er seine Spieler vom Feld holte und so einen Spielabbruch erzwang. Vorangegangen war ein Zweikampf im Strafraum von Trabzonspor, den weder Schiedsrichter Ali Sansalan noch sein Video-Assistent als elfmeterwürdiges Foul werteten. Im direkten Gegenzug kassierte Istanbulspor das 1:2 - nach dem Abbruch war dies auch der Endstand.
"Istanbulspor wurde seit Saisonbeginn ungerecht behandelt", sagte Sarialioglus Vize Ömer Saral anschließend. "Heute haben wir gesagt, dass es genug ist. Unser Präsident konnte diese Ungerechtigkeiten nicht mehr ertragen. Wir müssen diesen Menschen jetzt Einhalt gebieten."
Süper Lig in einer "Krise des Vertrauens"
Damit meinte Saral sicher den Schiedsrichter direkt, wohl aber auch das große Ganze. "Es herrscht eine Krise des Vertrauens in der Süper Lig", sagt Özdamar. "Der Verband ist nicht stark, die Schiedsrichter haben keinen Schutz. Unter dem enormen öffentlichen Druck machen sie automatisch Fehler, auch gravierende. Manchmal können sie auch nicht pfeifen, was sie sehen, aus Angst, ein starker Verein könnte sie kritisieren." Das könne dann zur Folge haben, dass der Verband sie nicht mehr beschäftige, sagt Özdamar.
Zu allen großen Klubs kennt Özdamar Beispiele, wie sie verbal Druck auf Schiedsrichter ausüben. "Wenn das so weitergeht mit den Schiedsrichtern, dann werden wir die Liga nicht zu Ende spielen", habe Erden Timur gesagt, der Vize-Chef von Galatasaray. Einen ehemaligen Besiktas-Präsidenten zitiert Özdamar mit dem Satz, Schiedsrichter würden keine Toleranz verdienen.
Und dann ist da noch Ali Koc, aktueller Präsident von Fenerbahce. "Er hat die Anhänger aufgerufen, die Schiedsrichter überall zu verfolgen", sagt Özdamar. "Wenn sie sie in der Bahn oder auf der Straße sehen: einfach mal Fotos von ihnen machen. So werden die Schiedsrichter wie Freiwild für die Jagd freigegeben. Das hat mit Sport nichts mehr zu tun."
Heikle Schiedsrichter-Ansetzungen
Koc führe zudem eine Liste mit Schiedsrichtern, die keine Heimspiele von Fenerbahce leiten sollten, sagt Özdamar - ohne Gegenwind seitens des Verbandes. Dort helfe angeblich eine künstliche Intelligenz für die Schiedsrichteransetzungen in der Süper Lig. "Allerdings hat kürzlich Ali Palabıyık, ein früherer Schiedsrichter, erklärt, dass diese Listen zum Schluss auf den Tisch von Verbandspräsident Büyükeksi landen." Dieser tausche dann manche Namen aus. "Das macht er aus Angst, weil er es sich nicht mit den starken Präsidenten der großen Istanbuler Vereine verscherzen möchte."
Die Negativschlagzeilen der Süper Lig sorgen für Unruhe in einer Zeit, in der die türkische Nationalmannschaft mit der erfolgreichen EM-Qualifikation Euphorie ausgelöst hat. Und in eine Zeit, in der sich die Türkei auf das Jahr 2032 vorbereitet - dann wird sie gemeinsam mit Italien die Europameisterschaft ausrichten.