FIFA WM 2022 Schweiz gegen Serbien - Erinnerungen an den Doppeladler
Beim Duell zwischen der Schweiz und Serbien geht es um Weiterkommen oder WM-Aus. Doch neben der sportlichen Brisanz gibt es auch politischen Zündstoff.
Viereinhalb Jahre liegt das bislang letzte Spiel zwischen Serbien und der Schweiz schon zurück. Und doch sind die Erinnerungen an diese Partie in beiden Ländern noch sehr präsent. Damals, bei der WM 2018. Im letzten Gruppenspiel ging es für beide Mannschaften um den Einzug ins Achtelfinale. Am Ende kam die Schweiz weiter - durch das 2:1 von Xherdan Shaqiri in der 90. Minute.
Doch die sportliche Dramatik war nur ein Teilaspekt, warum dieses Spiel in die Geschichtsbücher eingehen sollte. Es war die politische Komponente, die ihren Höhepunkt nach diesem Treffer in der 90. Minute fand. Shaqiri sprintete über den Platz, verkeilte seine beiden Daumen, breitete die Hände aus und reckte sie in die Höhe: der Doppeladler.
Provokationen und Beleidigungen
Ein Gruß in Richtung Kosovo und Albanien, wo Shaqiri und Granit Xhaka ihre Wurzeln haben, und eine Nachricht in Richtung Serbien. Auch Xhaka hatte bei seinem 1:1 schon die Geste in Richtung der serbischen Fans gezeigt. Vorangegangen waren wochenlange Provokationen, Beschimpfungen und Beleidigungen der serbischen Zuschauer gegen die beiden Spieler.
Am Freitag treffen die Schweiz und Serbien zum ersten Mal seit diesem Duell wieder aufeinander – und die Vorzeichen ähneln sich. Wieder ist es das Gruppenfinale. Wieder können beide Mannschaften weiterkommen. Wieder liegen die Hoffnungen der Schweiz auf Xhaka und Shaqiri, sofern dieser rechtzeitig für das Spiel fit wird.
Lichtsteiner: "Nicht falsch, dass ich den Doppeladler machte"
Sollte Kamerun im Parallelspiel gegen Brasilien nicht gewinnen, reicht der Schweiz ein Unentschieden, um weiterzukommen. Serbien muss gewinnen. Alleine sportlich ist die Partie brisant, die Erinnerungen an 2018 könnten die Partie noch hitziger werden lassen.
Bei der WM 2018 schloss sich auch der damalige Kapitän Stephan Lichtsteiner dem Doppeladler-Jubel an, obwohl er keine Wurzeln im Kosovo hat. "Für mich war nicht falsch, dass ich den Doppeladler machte", sagte Lichtsteiner kürzlich gegenüber der "Neuen Zürcher Zeitung". "Ich erlebte die ganzen Provokationen vor dem Spiel und wie es danach im Stadion abging. Dass man diese Emotionen von weiter weg nicht mitfühlen konnte, verstehe ich."
Der erste Satz fand sich kurze Zeit später als Aufmacher auf der Homepage der serbischen Zeitung "Novosti" wieder. Der Titel: "Skandalöse Aussagen des ehemaligen Schweizer Kapitäns." Denn in Serbien wurde die Doppeladler-Geste als große Provokation verstanden.
Offener Konflikt um Souveränität des Kosovo
Der Kosovo erklärte 2008 seine Unabhängigkeit von Serbien. In einem 2010 veröffentlichten Gutachten kam der Internationale Gerichtshof in Den Haag zu dem Ergebnis, dass die Unabhängigkeitserklärung Kosovos keinen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt. Dennoch erkennen lediglich 115 der 193 UN-Mitgliedstaaten den Kosovo offiziell an. Unter den restlichen 78 Ländern finden sich Russland, Nordkorea, Spanien und eben Serbien.
Das Spiel zwischen Serbien und der Schweiz kommt zu einem Zeitpunkt, an dem der Konflikt nach Jahren der schleichenden Entspannung wieder einmal zu eskalieren droht. Seit Mitte des Jahres streiten der Kosovo und Serbien über Grenzübertritte, Autokennzeichen und bürokratische Hürden. Im Kern geht es allerdings weiter um die Nicht-Anerkennung der Souveränität des Kosovos durch Serbien und die nicht verheilten Wunden aus dem Kosovo-Krieg.
Xhaka: "Was mein Vater dort erlebt hat, wünscht man niemandem"
Zwar ist die Schweiz nicht direkt von diesem Konflikt betroffen, doch sie hat mit Shaqiri und Xhaka zwei der wichtigsten Identifikationsfiguren des Kosovo in den Reihen ihrer Nationalmannschaft. Shaqiri wurde in Gjilan im heutigen Kosovo geboren, trug die blau-gelbe Flagge lange neben der schweizerischen auf seinen Schuhen.
Xhakas Vater Ragip war Anfang der 1990er Jahre über sechs Monate politischer Gefangener, als Serbien Anspruch auf den Kosovo erhob. "Was mein Vater dort erlebt hat, wünscht man niemandem. Ich weiß bis heute nur die Hälfte dieser schlimmen Geschichte", erzählte sein Sohn Granit, der nach der Flucht der Eltern in der Schweiz geboren wurde.
Xhaka trotz Hassnachrichten gelassen
Er selbst bekam im Vorfeld der Partie bei der WM 2018 Hassnachrichten und Todesdrohungen von serbischen Fans. Nun versucht der heutige Kapitän der Schweizer Nationalmannschaft vor dem erneuten Aufeinandertreffen, die Stimmung nicht weiter hochkochen zulassen.
Auf der Pressekonferenz vor dem Spiel antwortete er gelassen auf die Frage, ob er sich diesmal überhaupt traue, sein Handy anzuschalten: "Deshalb muss ich mein Handy nicht ausschalten. Das ist normal, das ist nichts Neues." Eine diplomatische Antwort, die kein zusätzliches Benzin in diesen schwelenden Brand gießen soll.
Friedensgipfel zwischen Serbien und der Schweiz
Damit ist Xhaka ganz auf Verbandslinie, der die politischen Dimensionen dieser Partie ebenfalls möglichst gering halten möchte. Pierluigi Tami, Sportdirektor des Schweizer Nationalteams, berichtete, dass es bereits kurz nach der Gruppenauslosung ein Treffen zwischen dem Schweizer und serbischen Fußballverband gegeben habe. "Dabei haben beide Verbände betont, dass es an der WM um Fußball gehen wird", so Tami.
FIFA-Ermittlungen gegen Serbiens Fußballverband
Auch Serbiens Nationalmannschaft versucht, auf Pressekonferenzen die Fragen rein auf sportliche Themen zu beschränken. Doch anscheinend gab es bei der WM schon einen ersten Giftpfeil in Richtung des Kosovo und somit auch gegen Shaqiri und Xhaka.
Die FIFA hat Ermittlungen gegen den serbischen Fußballverband aufgenommen, nachdem ein Foto aufgetaucht war, das vor dem Spiel gegen Brasilien in der serbischen Kabine aufgenommen worden sein soll. Darauf zu sehen ist eine Flagge, die zwischen den Trikots der Serben aufgehängt wurde. Auf ihr prangt das serbische Wappen, welches über die kosovarischen Landesgrenzen gelegt ist. Darüber der Spruch: "Niemals aufgeben."
Unruhige WM von Serbien
Auf die FIFA-Ermittlungen und die Flagge angesprochen, erwiderte Serbiens Nationaltrainer Dragan Stojković schlicht: "Nächste Frage. Kein Kommentar." Und auch Filip Kostić versuchte auf seiner Pressekonferenz den Fokus auf den Fußball zu legen.
Erschwert wurde das durch die ohnehin schon schwierige Stimmungslage, die Serbien bei diesem Turnier begleitet: jede Menge Verletzungen, schwache Leistungen im bisherigen Turnier, Streits im Training und Gerüchte über Affären von zwei Nationalspielern mit den Frauen ihrer Teamkollegen.
Kuzmanović: "Würde Xhaka und Shaqiri umhauen"
Hinzu kamen die Aussagen des ehemaligen Nationalspielers und Stuttgart-Profis Zdravko Kuzmanović, der sich in einem Interview mit der schweizerischen Zeitung "20 Minuten" zu Shaqiri und Xhaka äußerte: "Wäre ich an der WM 2022 noch Spieler bei Serbien, ich würde Xhaka und Shaqiri umhauen. Wenn Serbien nichts mehr zu verlieren hat, weiß ich nicht, ob die Knochen halten werden. Wenn du provozierst, musst du auch gefasst darauf sein, dass es auf dem Spielfeld scheppert."
Der Schweizer Nationalspieler Djibril Sow versuchte auch dieses Thema zu umschiffen: "Was soll ich dazu sagen? Ich habe keinen Kommentar zu solchen Aussagen", sagte Sow und hoffte auf ein hitziges, aber faires Match: "Es war ein anderes Spiel, mit anderen Hintergründen. Die Geschichte wird sich nicht wiederholen."
Lichtsteiner lobt serbische Spieler: "Team war extrem fair"
Lichtsteiner bezweifelt, dass Xhaka und Shaqiri erneut die Doppeladler-Geste machen werde. "Es wird nicht mehr passieren. Was war, kann man vergessen. Das serbische Team war extrem fair. Es gab kein böses Blut zwischen den Spielern."
Und Xhaka? Der ließ zumindest Raum für Interpretationen: "Wir sind professionell genug, dass wir uns auf Fußball konzentrieren", sagte der Schweizer Kapitän und konnte es sich doch nicht nehmen lassen, mit einem breiten Grinsen noch ein Wort hinterherzuschieben: "Hoffentlich."