Kratiens Keeper Dominik Livakovic pariert

FIFA WM 2022 Elfmeter bei der WM - Druck, schlechte Quote, Regeländerung

Stand: 13.12.2022 10:00 Uhr

Elfmeter spielen bei der WM in Katar eine bedeutende Rolle. Die Erfolgsquote bei den Schützen ist gering, erst recht unter hohem Druck. Ein Experte erklärt das auch mit einer Regeländerung.

Von Marcus Bark, Doha

Der Luftdruck ist genau zu bestimmen, der Reifendruck auch. Der Druck aber, der auf einem Fußballer lastet, wenn der Ball auf dem Punkt mit elf Metern Abstand vor dem Tor liegt, der kennt keine Einheit.

Dieser Druck ist recht gering, wenn Robert Lewandowski etwa in der neunten Minute der Nachspielzeit, wie im Achtelfinale gegen Frankreich geschehen, einen Elfmeter beim Stand von 0:3 verwandeln will. Immens hoch war er hingegen für Harry Kane, als der im Viertelfinale gegen Frankreich vor der Aufgabe stand, beim Stand von 1:2 einen zweiten Strafstoß zu verwandeln. Er schoss über das Tor, England schied aus.

Nur 2010 waren die Schützen noch weniger erfolgreich

Kanes Elfmeter war einer von sechs, die in den Gruppen-, Achtelfinal- und Viertelfinalspielen in der regulären Spielzeit und in Verlängerungen verschossen wurden. Bei 19 verhängten Strafstößen entspricht das einer Quote von etwa 32 Prozent. Im Umkehrschluss wurden also 68 Prozent der Elfmeter verwandelt.

Das ist der zweitschlechteste Wert, seitdem 1998 damit begonnen wurde, eine WM mit 32 Mannschaften und nach dem bis heute gültigen Modus zu spielen. In Südafrika 2010 wurden nur neun von 15 Elfmetern, also 60 Prozent verwandelt. In Frankreich 1998 und Brasilien 2014 wurden mehr als 90 Prozent der Elfmeter verwandelt. Statistische Untersuchungen mit einer Datenbasis von Tausenden Elfmetern haben ergeben, dass für gewöhnlich etwa drei von vier Strafstößen verwandelt werden, also 75 Prozent.

Strafstoßquote
WM Strafstöße verwandelt Prozent
2022* 19 13 68
2018 29 22 76
2014 13 12 92
2010 15 9 60
2006 17 13 76
2002 18 13 72
1998 18 17 94

*bei der WM 2022 nach 60 von 64 Spielen

Fehler in der FIFA-Auswertung

Die Technische Studiengruppe der FIFA, die am Montag (12.12.2022) in Doha Bilanz nach den Viertelfinalspielen zog, behauptete, dass beim Turnier in Katar 36 Prozent der Elfmeter gehalten würden, ohne die bislang vier Elfmeterschießen zu berücksichtigen.

Bei dieser Berechnung muss sich allerdings ein Fehler eingeschlichen haben, denn selbst wenn Kanes Schuss über das Tor als "gehalten" gewertet wird, liegt die Quote nur bei 32 Prozent. Werden nur die vom Torwart abgewehrten Strafstöße als "gehalten" gewertet, ergibt sich eine Quote von nur etwa 26 Prozent.

Neue Regel für Torhüter

Angesichts des Fehlers in der Rechnung müssen die Aussagen von Pascal Zuberbühler, einem Mitglied der Technischen Studiengruppe, relativiert werden. Der ehemalige Schweizer Nationaltorwart sagte im Gespräch mit der Sportschau, dass eine Modifikation der Regeln vor drei Jahren für die Steigerung bei den verschossenen Elfmetern verantwortlich sei. "Diese Regeländerung musste her, weil die Torhüter immer mehr von der Linie weggekommen sind, um den Winkel zu verkürzen."

Dies ergab sich allerdings daraus, dass die alte Regelung von den Schiedsrichtern nur äußerst selten streng angewandt wurde. Dass der Torhüter bis zur Ballberührung des Schützen mit beiden Füßen auf oder hinter der Torlinie stehen musste, wurde bei Missachtung kaum geahndet.

Nur auf den ersten Blick ein Nachteil für die Keeper

Um dies zu ändern, wurde die Regel aufgeweicht. Das hört sich bizarr an. Die Ansage an die Schiedsrichter, Vergehen auch mit Hilfe des Videoassistenten streng zu ahnden, führte jedoch dazu, dass die Regeländerung, nur noch mit einem Fuß auf oder hinter der Linie sein zu müssen, "anfangs sehr negativ für die Torhüter geklungen hat".

Inzwischen aber entpuppe sich die Änderung als Segen für die Torhüter, weil ein Fuß nach vorne versetzt werden dürfe, der ein besseres Abstoßen erlaube. "Dein linker oder rechter Fuß setzt auf, und von daher muss die Explosivität kommen", sagte Zuberbühler. Welcher Fuß das sei, so der 51 Jahre alte Schweizer, bestimme die Ecke, für die sich der Torhüter in der Regel immer noch entschieden habe.

Quote in Elfmeterschießen noch geringer

Als Beispiel für seine Theorie nannte Zuberbühler den Elfmeter von Virgil van Dijk, den Argentiniens Torhüter Emiliano Martínez im Viertelfinale abwehrte. "Martínez hält den Elfmeter extrem in der Seite. Dieser Elfmeter ist super geschossen, aber wenn der Torhüter mit dieser neuen Regelung die richtige Seite wählt, hast du ganz klar einen Vorteil", so Zuberbühler, der in der Saison 2000/01 für Bayer Leverkusen in der Bundesliga spielte.

Van Dijks vergebener Schuss war der erste im Elfmeterschießen der Niederlande im Viertelfinale gegen Argentinien. Werden nur die Elfmeter in jenem Part eines K.o.-Spiels gewertet, der den Druck für Spieler in der Regel noch weiter erhöht, sinkt die Erfolgsquote. Von 33 Elfmetern im Elfmeterschießen wurden nur 20 verwandelt, die Quote beträgt also gut 60 Prozent. Spanien scheiterte mit allen dreien im Achtelfinale gegen Marokko, einer landete am Pfosten, die anderen beiden wurden von Torhüter Yassine Bounou, genannt Bono, abgewehrt.

Kroatien ist Experte für die Ausnahmesituationen

Das Halbfinale der Weltmeisterschaft 2022, das am Dienstag (13.12.2022, Anstoß 20 Uhr, ab 18.50 Uhr live im Ersten und im Stream bei sportschau.de) mit der Partie zwischen Argentinien und Kroatien beginnt, wird von Stars wie Lionel Messi, Luka Modric und Kylian Mbappé, aber eben auch von den Torhütern geprägt.

Kroatiens Dominik Livaković hielt in den beiden Elfmeterschießen gegen Japan und Brasilien ingesamt vier Elfmeter. Nur drei der acht Elfmeter gegen ihn im Showdown wurden verwandelt. Als der Druck bei Marquinhos das Maximum erreichte, weil der Brasilianer hätte verwandeln müssen, um den Favoriten im Spiel und damit im Turnier zu halten, schoss er an den Pfosten.

Kroatien hingegen, das schon in Russland das Achtel- und Viertelfinale durch ein Elfmeterschießen überstand, verwandelte sieben der acht Elfmeter.

Torhüter bei hohen Schüssen nahezu chancenlos

Die Analyse der 19 Elfmeter bei der WM ausschließlich der Elfmeterschießen zeigt, dass Schüsse in die obere Hälfte des Tores die deutlich besseren Erfolgschancen haben. Vier der fünf vom Torhüter abgewehrten Schüsse wurden flach geschossen, der von Lionel Messi gegen Polen verschossene Strafstoß war nur halbhoch angesetzt. Sein im Spiel verwandelter Elfmeter gegen die Niederlande hingegen war ähnlich prächtig in die obere Torhälfte und ins rechte Ecke gezielt wie der erste von Harry Kane gegen Frankreich ins linke.

"Ganz klar die hohen Elfmeter", sagte Zuberbühler zu den Schüssen, bei denen der Torhüter nahezu chancenlos ist. Daher schieße Kane auch häufig hoch. Dass der zweite Elfmeter "zu hoch" angesetzt gewesen sei, könnte auch mit einer besonderen Situation zu tun gehabt haben: "Und wenn der Torhüter dann auch noch weiß, wie Kane die Elfmeter schießt, so wie Hugo Lloris, der mit ihm tagtäglich (bei Tottenham Hotspur) trainiert, weiß ich nicht, ob das ein Vorteil war, dass er noch ein zweites Mal angetreten ist."