FIFA WM 2022 Belgien - der ewige Geheimfavorit ist erwachsen
Seit acht Jahren reisen die Belgier mit Hoffnungen auf den großen Titel durch die Welt. Gewinnen konnten sie noch keinen. Katar könnte die letzte Chance der goldenen Generation sein.
Die Europameisterschaft 2012 war die bislang letzte Fußball-Großveranstaltung, in die Belgien nicht mit dem Label "Geheimfavorit" in das Turnier gestartet ist. Damals wurde Fernando Torres Torschützenkönig vor Mario Gomez, bei England trug Steven Gerrard die Kapitänsbinde und Belgien war gar nicht qualifiziert.
Seit der WM 2014 wurde Belgien immer als Überraschungskandidat gehandelt. Und auch wenn sich die "Roten Teufel" in Katar um dieses Etikett mit Dänemark und den Niederlanden streiten müssen, gehört Belgien auch bei der WM 2022 zum erweiterten Kreis der Titelanwärter.
Konstante Leistung ohne den großen Wurf
Die Bilanz des ewigen Geheimfavoriten kann sich als Erfolg oder Scheitern bewerten lassen – je nachdem, ob man das Wort "geheim" oder "Favorit" stärker betont. WM 2014: Viertelfinal-Aus gegen den späteren Finalisten Argentinien. EM 2016: Viertelfinal-Aus gegen Wales. WM 2018: Halbfinal-Aus gegen Frankreich und anschließender Sieg im Spiel um Platz drei gegen England. EM 2021: Viertelfinal-Aus gegen den späteren Europameister Italien.
Belgien unter Martínez - selber Kern, mehr Erfahrung
Auch wenn es nie für einen Finaleinzug gereicht hat, ist Belgien zumindest die konstanteste Mannschaft der vergangenen acht Jahre. Kein anderes Team war seit 2014 in Kontinental- und Weltmeisterschaften in jedem Viertelfinale vertreten. Frankreich, Brasilien, England, Spanien, Deutschland, Argentinien – sie alle hatten in diesem Zeitraum zumindest einen Durchhänger. Doch für den ganz großen Wurf hat es bei Belgien eben nie gereicht.
Kann diesmal der Geheimfavorit in Katar doch dem Wort "Favorit" gerecht werden? Die Mannschaft, die der Spanier Roberto Martínez in diesem Jahr versammelt hat, ist im Kern dieselbe, die er 2016 übernommen hat. Und doch ist es eine andere. Die Spieler sind gereift, haben das Image der jungen Wilden lange abgestreift - ohne jedoch die Spielfreude und Kreativität zu verlieren, die sie während der vergangenen acht Jahre zu einem Publikumsliebling hat werden lassen.
Die letzte WM der goldenen Generation Belgiens
Mit Eden Hazard (Real Madrid) und vor allen Dingen Kevin De Bruyne (Manchester City), der seit Jahren seinen Status als einer der besten Spielmacher der Welt zementiert, hat Belgien nicht nur zwei Ausnahmekönner hinter den Spitzen, sondern auch jede Menge Erfahrung. Auch der Rest der Mannschaft ist gespickt mit hoch dekorierten und erfolgreichen Fußballern – allesamt um die 30 Jahre. Im Tor ist Thibaut Courtois (30), der sich nach einem schwierigen Anfang bei Real Madrid als wichtiger Rückhalt beim Champions-League-Sieg 2022 bewiesen hat.
Davor bestreiten Jan Verthongen (35) und Toby Alderweireld (33) ihr wohl letztes Großturnier. Mit Thomas Meunier (31), Thorgan Hazard (29) und Yannick Carrasco (29) auf den Flügeln, Axel Witsel (33) und Youri Tielemans (25) im Zentrum und Michy Batshuayi (29) und Romelu Lukaku (29) im Sturm hat Martínez ein Gruppe von Fußballern versammelt, die in ihren Karrieren schon viele Höhen und Tiefen des Geschäfts miterlebt haben und sich untereinander bestens kennen. Es ist eine Mannschaft, die nur allzu gut weiß, wie es ist, mit hohen Erwartungen in ein Turnier zu gehen, ohne sie letztendlich zu erfüllen. Nun ist ihre letzte Chance, bei einer WM zu beweisen, dass diese Erwartungen auch berechtigt waren.
Witsel: Die Erfahrung ist ein Vorteil
"Wir haben viel Erfahrung. Der Trainer ist seit sechs Jahren dabei und wir spielen als Team schon lange zusammen", sagte Witsel vor dem Auftakt gegen Kanada und wies auf die ungewöhnliche Situation bei der Winter-WM in Katar hin: "Es gab nicht viel Vorbereitung, aber das ist ein Vorteil für uns. Für viele Spieler wird es jedoch die letzte Chance sein, ein Turnier zu gewinnen."
Garniert wird dieses Team mit der neuen Generation wie den Innenverteidigern Wout Faes (Leicester City/24) und Arthur Theate (FC Stades Rennes/22), dem beeindruckenden 1,95-Meter-Brecher im defensiven Mittelfeld, Amadou Onana (FC Everton/21), und dem Flügelstürmer Jérémy Doku (FC Stades Rennes/20).
Kampfansage an Kapitän Hazard?
Auch an dieser zweiten Reihe wird es liegen, wenn Belgien nun endlich zum ganz großen Titel greifen will. Nicht nur, weil sie als Auswechsel- oder Ergänzungsspieler auf der größtmöglichen Bühne fehlerlos funktionieren müssen, sondern auch weil das interne Mannschaftsgefüge stimmen muss, damit ein Underdog weit kommen kann.
Ob jeder mit seiner Rolle zufrieden sein wird, ist zu bezweifeln. Die Äußerungen von Leandro Trossard lassen sich zumindest als kleine Kampfansage an Kapitän Eden Hazard deuten: "Eden Hazard ist nicht irgendjemand. Aber alle, die hier sind, wollen einen Stammplatz. Hier gibt es viel Konkurrenz, aber es liegt an mir, dem Trainer zu zeigen, dass er auf mich zählen kann." Hazard, der in Madrid selbst die Reservistenrolle nur zu gut kennt weiß, dass er bei seiner vielleicht letzten WM unter besonderer Beobachtung steht: "Ich kann noch viel beitragen. Ich bin nicht plötzlich ein schlechter Fußballer geworden", sagte Hazard. "Es liegt an mir, die Skepsis zu widerlegen."
Kanadas schnelle Flügel sind ein erster Prüfstein
Wie gut dieser neue alte Geheimfavorit funktioniert, wird sich beim Auftakt am Mittwoch, 23. November, gegen Kanada zeigen. Die schnellen, offensiven Spieler um Alphonso Davies und Jonathan David könnten zu einem Problem für die alten Innenverteidiger-Beine der Belgier werden.
Eine Schwäche im Auftaktspiel kann sich Belgien allerdings nicht leisten. Denn auch die anderen Gegner in der Gruppe F - Kroatien und Marokko - sind stark genug, um weiterzukommen. Aber eine solche Drucksituation ist für einen erfahrenen Geheimfavoriten ja nichts Ungewöhnliches.